Tim wird Anfang Januar acht Jahre alt. Er wünscht sich natürlich wie immer Lego. Aber er hat diesmal auch einen ausgefallenen Wunsch: Er will unbedingt Schokoküsse! Warum ausgefallen? Tja, die gibt es hier in normalen Läden nicht, denn das ist etwas typisch Deutsches! Wusstet ihr, dass insgesamt jährlich eine Milliarde davon in Deutschland verkauft werden (laut Wikipedia)? Das macht durchschnittlich zwölf Schokoküsse pro Person! Ich telefoniere einige deutsche Metzgereien durch – nicht wundern, die sind immer eine gute Anlaufstelle für „deutsche“ Sonderwünsche wie z. B. Tortenguss, Überraschungseier u. a. Beim dritten Versuch werde ich fündig, und wir kaufen direkt alle Schaumkuss-Packungen auf, die im Laden zu bekommen sind. Das Personal macht dem Klischee, dass die Deutschen muffelig sind, alle Ehre. Aber die Wurst ist wohl so gut, dass die Kundeninnen und Kunden trotzdem wiederkommen. Uns interessieren ja auch momentan nur die Schokoküsse – Tim und die anderen drei sind happy, ich auch. Klatschen und „one for good luck“ Jedes Land hat seine eigenen Rituale, so auch Amerika. Seitdem wir hier sind, klatschen wir zum Beispiel nach dem Kerzenauspusten in die Hände, bei Tims achtem Geburtstag also neun Mal: „One, two, three, four, five, six, seven, eight – and one for good luck!“ Dieser Brauch ist neu für uns und kommt aus Oles (6) Montessori-preschool – gibt es den in Deutschland eigentlich auch? Und tatsächlich – es klappt: Das erste Mal in seinem Leben kann Tim seinen Kindergeburtstag bei frühlingshaften 16 Grad draußen feiern – und das am 7. Januar! Es ist die höchste Temperatur, die seit Wetteraufzeichnungen an diesem Tag je in New Jersey gemessen wurde.
Eine „Zweitfrau“ als Geburtstagsgeschenk
Bei unserem zweiten Geburtstagskind Marc müssen wir dann doch noch etwas öfter klatschen – 41 Klatscher inklusive dem für Glück: Happy Birthday! Ich habe mir schon etwas Besonderes für diesen runden Geburtstag überlegt. Mein Geschenk heißt Amanda, sieht gut aus und ist fit wie ein Turnschuh. Sie kommt zweimal die Woche ins Haus, und mit ihr darf sich Marc mal so richtig austoben. Na, neugierig? Richtig: eine Personal Trainerin! Beim ersten Treffen wird alles klar gemacht: Zuerst waiver unterschreiben, die rechtliche Verzichtserklärung. Damit ist Amanda nicht haftbar, egal was auch passieren mag. Dann erklärt sie unbeeindruckt: „I’ll push you to the limits. You do what I tell you. I will make you suffer and you will hate me. Don’t mail in, you have to dial in.“ Hui, alles klar – und los geht’s in den Keller zum Trainieren! Sie ist genauso, wie ich mir eine amerikanische Personal Trainerin vorgestellt habe: immer gut gelaunt, mit wippendem Pferdeschwanz, saufreundlich. Aber sie weiß genau, was sie will, kommt auf die Minute und flitzt nach exakt 60 Minuten wieder aus unserer Haustür raus. Eine Personal Trainerin oder einen Trainer zu haben, ist hier übrigens lange nicht so exotisch, snobistisch oder abgedreht wie in Deutschland. Viele gehen ins Fitnessstudio und haben dann dort ihre Trainer/innen, die ihnen ein maßgeschneidertes Fitnessprogramm bieten. Und für die hartnäckigen Fälle gibt es eben auch die, die nach Hause kommen, so wie Amanda. Kostenpunkt: 60 Dollar pro Stunde. Klar, super teuer. Aber wenn das die einzige Möglichkeit ist, Marc zum Sport zu bekommen, dann ist das eben so. Bis 40 bekommt man seine Gesundheit „geschenkt“, danach muss man regelmäßig etwas dafür tun, oder? Amandas Stimme ist so laut, dass man sie aus dem Keller im ganzen Haus hört: Sie gibt an, welche Übungen Marc machen soll, sie zählt mit, hat Hanteln, Bälle etc. dabei, sie feuert ihn an. Und wenn er schlappmacht, tut sie das notfalls auch mit deutschem Akzent, wie sie uns verrät – das hat mit dem Image der Deutschen zu tun, die in amerikanischen Filmen oft die Fieslinge mit starkem deutschen Akzent mimen. Da hört man …
Der Winter hält Einzug
Im Dezember sind die Bäume fast alle kahl, und die ohrenbetäubenden Laubgebläse, die im November hier oft von mehreren Seiten gleichzeitig röhrten, haben ihre Arbeit für dieses Jahr erledigt – es wird wieder ruhiger auf unserer Straße. Verrückterweise sind jetzt die Überreste vom Schneesturm im Oktober besonders gut zu sehen: Alle abgeknickten Äste, die noch nicht entfernt wurden – und das sind etliche! – tragen noch viele, viele welke Blätter. Ganz im Gegensatz zu den kahlen Bäumen, an denen sie baumeln. Ja, Blätterabwerfen ist tatsächlich ein aktiver Prozess, den der Baum selbst auslöst! Einige der Bäume stehen immer noch bedenklich schief und hängen halb über der Straße – da gebe ich dann einfach ein bisschen mehr Gas beim Drunterdurchfahren. Während sich die squirrels wie letztes Jahr eifrig über die Reste der Kürbisse vor unserer Haustüre hermachen, sind die Streifenhörnchen und die Grillen, von denen einige bis November ausgehalten hatten, auf einmal komplett verschwunden. Über die Temperaturen können wir nicht klagen: zwischen knapp unter Null bis plus 20 Grad Celsius – alles noch sehr gemäßigt. Und bisher kein Schnee !!! 🙂 🙂 🙂
Sharing is caring!
Vor „Kings“, unserem überteuerten Minisupermarkt in Morristown, stehen jetzt oft Spendensammler/innen von der Heilsarmee, die unaufhörlich mit ihrem goldenen Glöckchen (das sie nach oben halten!) die Leute auf sich aufmerksam machen. „Sharing is caring“ – viele Leute werfen nach dem Einkauf ein bisschen Kleingeld in den großen Messingeimer. Einer der Angestellten trägt den ganzen Dezember über eine Weihnachtsmütze auf dem Kopf und eine blinkende Minilichterkette um den Hals – er sieht damit etwas abenteuerlich aus, ist aber einfach immer gutgelaunt, saufreundlich und hilfsbereit. Abends erleuchten viele Lichterketten die Häuser und Gärten. Zugegeben, es gibt auch einige weihnachtlich beleuchtete Häuser, bei denen es die Besitzer/innen etwas zu gut meinen. Bemerkenswert finde ich die Lichterketten, mit denen viele Leute ihre Dachgiebel von außen schmücken – das müssen halsbrecherische Aufhängaktionen sein, aber es lohnt sich wegen der schönen Wirkung. Morristown und Madison mögen zwar keinen über tausend Jahre alten Dom haben wie Aachen, aber an Gemütlichkeit stehen sie vielen deutschen Städten an nichts nach – meine Meinung ;-). Beim Laufen sehe ich morgens tatsächlich zwei Männer, die ihr Holz vor der Tür hacken – das sieht man doch in Deutschland eher nie, oder? Umgefallene Bäume hatten wir ja genug. Und ein Mann läuft mir morgens in Morgenmantel und Weihnachtsmütze über den Weg, um die Zeitung von der Einfahrt aufzuheben. In einigen Vorgärten und Parks sieht man Krippen von klein und fein bis zu solchen mit aufgeblasenen, lebensgroßen Figuren – viele schon keine Grenzfälle mehr, sondern echt krasser Kitsch. Und in öffentlichen Gebäuden schmücken Unmengen von gigantisch großen Weihnachtssternen die Hallen.
Tatü – Tata – der Weihnachtsmann ist da
Kurz vor Weihnachten kommt das Feuerwehrauto mit heulender Sirene und rot-blauem Geblinke durch die Wohngebiete gebraust – Santa Claus höchstpersönlich verteilt Candy Canes an alle Kinder, die aus ihren Häusern kommen und dem Weihnachtsmann winken. Klar, Ole und Paul wollen auch und laufen schnell zur Straße. Irgendwie scheinen die Feuerwachen hier bei „Santa-Specials“ sehr kreativ zu sein. Mt. Kemble’s Fire Trucks bieten für 15 Dollar pro Geschenk einen „Abhol-, Einpack- und Santa-Lieferservice“ an, bei der Fairchild Fire Company gibt es „Pancake Breakfast“ und „Photos with Santa“, und bei unserer Feuerwache um die Ecke gibt’s jede Menge Weihnachtsbäume zu kaufen.
Winterkonzerte an den Schulen
Wie letztes Jahr bereiten die Kids in den Grundschulen für Dezember ein Konzert vor. Die Musikschullehrerin von Theo und Tim hat also die Aufgabe, ein Programm auf die Beine zu stellen, das alle Eltern zufriedenstellt und keinem auf die Füße tritt. Und sie schafft es: Diese eine Stunde in der Aula ist wieder ein ziemlich beeindruckendes Multikulti-Spektakel, was die kulturelle Vielfalt dieser Festzeit gut widerspiegelt. Die Kinder, wie immer in „bunt gemischten“ Hautfarben und unheimlich diszipliniert auf der Bühne (bei Tim steht die gesamte Schülerschar – über 300 Kinder! – auf einmal auf der Bühne – WAHNSINN) und präsentieren für 45 Minuten, was sie geübt haben.
Holiday und Pajama Parties
Wenn die Winterferien näher rücken, wird auch in preschool und Schule gefeiert – die Frage ist nur: Was? Theo feiert in seiner Klasse eine „Holiday Party“, bei der es Pizza, Popcorn, Gemüse und „low-calorie“-Saucen gibt. Sie basteln dabei Schneeflocken aus Papier – dagegen kann niemand was haben. Bei Tim gibt es Pizza und sie dekorieren gingerbread-Kekse (die sind schon grenzwertig, weil bei der Dekoration Rot und Weiß, also weihnachtliche Farben, überwiegen). „It’s so christmassy“, beschwerte sich kürzlich eine jüdische Mutter. Tim und Ole haben beide eine Pajama Party. Bei Ole liegen alle Kinder mit pajama auf Matten, Kuscheltier unterm Arm und heißem Kakao in der Hand, und gucken sich einen „holiday favorite“ im Fernsehen an. Ole strahlt, als ich ihn abhole, und seine Lehrerinnen sagen mir, dass er die ganze Zeit wie ein Honigkuchenpferd gegrinst hat und zu ihnen meinte: „I never thought that Kindergarten could be that much fun.“ Schön, ihn mal so happy zu sehen. Paul hat dieses Jahr wieder beides – zuerst Hanukkah-Party mit Latkes und Dreidel und dann ein paar Tage später „Christmas lunch“.
Vorsicht Fettnäpfchen!
Die Festzeit im Moment ist eine gute Gelegenheit, den Nachbarsfamilien mal etwas diskret in den Vorgarten zu spinksen – dachte ich zumindest. Also, alle unsere Nachbarsfamilien, die mit rot-weißen Candy Canes ihren driveway beleuchten, die dicke grüne Kränze an der Tür und hell erleuchtete Tannenbäume im Wohnzimmer haben, die feiern Weihnachten. Und sind damit aller Wahrscheinlichkeit zumindest gemischt-gläubig. So weit, so gut. In unserer Nachbarschaft (30 Häuser) gibt es aber nur ein einziges Haus, das mit einer Menorah geschmückt ist – dabei haben wir mindestens zehn jüdische Familien hier! Tja, da ging meine Rechnung wohl nicht auf. Und trotzdem: Obwohl ich inzwischen eigentlich weiß, wer in unserer Straße jüdischen Glaubens ist (von denen, mit denen wir Kontakt haben), stellt mir mein Gehirn immer wieder Fallen. Wenn Nachbarinnen, die keine Weihnachtsbeleuchtung im Garten haben, mich fragen „What are you doing for Christmas?“, dann stelle ich fast reflexartig die Gegenfrage „What are you doing for Christmas?“ Und sobald es raus ist, haue ich mir auf den Mund und fühle mich mal wieder so richtig ertappt. Die Leute haben bisher immer abgewunken und gesagt „Oh, it’s o.k.“, aber ich fühle mich immer wie ein Volltrottel. Dabei hatte ich mir geschworen, dass mir das nach Rosh Hashana, wo ich auch ins Fettnäpfchen getreten war (da hatte ich nur blöd geguckt, als mir eine Nachbarin mitten im September erzählte, dass sie mit der Familie große Neujahrsfeier gehabt hätte), nicht mehr passieren würde, aber 40 Jahre „Monokultur“ kann man nicht einfach wegwischen … Politisch korrekt gibt es für jedes der Feste eine Sondermarke bei der Post zu kaufen. De facto muss man allerdings zugeben, dass die Weihnachtsdekorationen hier so allgegenwärtig und übermächtig sind – da können die Menorahs nicht mithalten. In einem Zeitungsartikel im Wallstreet Journal steht ganz klar, dass als Antwort auf den Weihnachtstaumel Tendenzen zu beobachten sind, dass auch Hanukkah immer größer gefeiert wird: Viele Familien schmücken ihr Haus mit blauen und weißen Lichtern, Kinder feiern „latkes on roller skates parties“, Jugendliche machen „Vodka und Latkes Parties“, es werden Dreidel-Wettbewerbe im Land abgehalten und in NYC gibt es sogar eine gut besuchte Striptease-Show …
Diskussionen um politisch korrekte Happy Holiday
Was ich mich frage: Wie erklären jüdische Eltern ihren Kindern, dass sie nicht an den Weihnachtsmann glauben, bzw. dass es ihn nicht gibt, wo er doch überall herumsteht? Und was sagen jüdische Kinder in der Schule zu ihren christlichen Klassenkamerad/innen, wenn die Sprache auf Santa kommt? Was antwortet man wohl als Lehrkraft, wenn ein verweintes Kind nach einer Diskussion mit einem anderen Kind fragt, ob es den Santa nun gibt oder eben nicht. Irgendwie ist die Sache doch etwas komplizierter, und auch getrennte Briefmarken können die Klippen im Alltag nicht umschiffen. Was machen Familien, in denen die Eltern verschiedene Religionen mitbringen? Keine Ahnung – ich weiß nur von unseren Freunden, dass sie einfach beides feiern. Die Verwandten des Vaters feiern Hanukkah-Partys, und dann kommt an Heiligabend noch Väterchen Frost aus Ungarn zu ihnen nach Hause. Wenn man damit aufwächst, ist es vielleicht doch nicht so kompliziert, wie es für mich scheint. Bei uns zu Hause haben wir jedenfalls lebhafte Diskussionen darüber. Ist „Happy Holiday“ nun eine politisch gewollte, völlig unhandliche und unnatürliche Formel (Marc) oder eine wirklich hilfreiche, gleichstellende Grußformel? Ich stoße mich jedenfalls nicht daran und benutze sie einfach, wenn ich mir nicht sicher bin, wen ich als Gegenüber habe. Welche Alternative gibt es denn auch?
Unsere erste deutsch-amerikanische Weihnacht
Und wie sieht es nun bei uns zu Hause aus? Warten aufs Christkind … oder doch auf den Weihnachtsmann? Während ich ihm gegenüber letztes Jahr innerlich sehr skeptisch eingestellt war und ihn als Konkurrenz zu unserem lieblichen, unsichtbaren Christkind gesehen habe, bin ich dieses Jahr schon offener. Die Kinder stellen weder ihn noch das Christkind in Frage. Und wenn uns mal wieder ein Weihnachtsmann auf der Straße begegnet, sagen die Kids nur, dass das wohl schon wieder so ein „pretend Santa Claus“ war – und „gut is“. Verwirrung um Tage und Jahreszeit Etwas verwirrender ist für die Kids im Moment der Zeitpunkt der Bescherung. Ihr wisst, dass die Amerikaner/innen am 25. Dezember morgens ihre Geschenke auspacken. Etwas irreführend ist die Bezeichnung der Festtage. Der 25. Dezember ist offiziell „Christmas Day“ (so weit, so gut), während „Christmas Eve“ der Abend des 24. Dezembers ist (und nicht etwa der Abend des 25., der hier nicht mehr so wichtig ist). Ole besteht am Morgen des 24. Dezembers darauf, dass ich sein selbstgebasteltes Geschenk aufmache, weil seine Lehrerin gesagt hatte, dass ich es am Morgen des „Christmas Day“ aufmachen sollte (was zwar eigentlich der 25. Dezember hier ist, aber das versteht er nicht). Genauso funktioniert das mit „New Year’s Eve“ (Abend des 31. Dezembers, bei uns „Silvester“) und „New Year’s Day“ (1. Januar). Wir haben auch ein bisschen gerätselt, was es denn mit den „Twelve Days of Christmas“ auf sich hat, einem beliebten Kinderweihnachtslied. Wieso jetzt auf einmal zwölf? Der Trick ist, dass das ursprünglich aus England (oder Frankreich, da ist man sich nicht einig) stammende Lied nicht die Tage vor Weihnachten, sondern die nach Weihnachten bis zum 6. Januar zählt. Richtig ins Wackeln kommt die Welt unserer Kinder allerdings erst, als Vitoria erzählt, dass in Brasilien der Weihnachtsmann genau um Mitternacht kommt und dass es dort im Moment richtig heiß ist. Das passt noch nicht mal in Theos Kopf: Er kann absolut nicht verstehen, dass es im Dezember irgendwo Sommer ist. Und er fragt immer wieder nach, ob in Brasilien vielleicht nicht doch gerade Juli ist. Also, Weihnachten am Strand mit Shorts …