Rutschpartie nach Hause

Schneesturm

Warum Knacken im Garten beunruhigend sein und wann Schlafen vor dem Kamin gefährlich werden kann. Wieso Halloween ausfällt und warum ich endlich verstehe, weshalb so viele Amerikaner/innen lieber ohne Zaun leben.

 
Schneesturm trifft auf Indian Summer
Zwei Tage vor Halloween, genau eine Woche vor dem Marathon, hält komplett überraschend der Winter Einzug und bringt direkt einen Schneesturm mit. Die Leute hier reden von einem „Nor’easter“ – einem großflächigen Sturm mit Winden aus dem Nordosten, der häufig sturmflutartige Regenfälle, in diesem Fall aber einen Schneesturm mit sich bringt. Es trifft alle hier unerwartet – ich habe bisher keine hochmontierten Scheinwerfer, keine Schneemarken in Nachbarsgärten und keine snowploughs gesehen. Was aber schlimmer ist: Die Natur ist nicht darauf vorbereitet ¬– schließlich haben wir hier noch Indian Summer, also recht dicht belaubte Bäume.

 

Ein Chaoswochenende Ende Oktober

 
Samstagvormittag, 29.10.2011
Wir sind gerade, wo wir immer sind um diese Zeit: Ole hat Schwimmkurs und schwimmt seine allerallererste Bahn im doggy-style. Ich bin in der deutschen Schule und meine sonst so coolen Schulkinder laufen immer wieder aufgeregt zum Fenster: „It snows? … No, that is no snow! … Yes, it is snow … it sticks, it sticks.“ Und tatsächlich: Schnee! Und er bleibt liegen! Nach zwei Stunden sind es fast 30 Zentimeter! Schlidderfahrt mit Sommerreifen nach Hause. Dort ist Vitoria ganz aus dem Häuschen, denn das ist der allererste Schnee in ihrem Leben! Auch die Kids sind begeistert und wollen direkt mit den Schlitten raus …

 

Samstagmittag
Und dann auf einmal überall ein ungewohntes, unheimliches Knarren und Knacken im Garten. So was habe ich noch nie gehört, aber gut hört sich das nicht an. Es ist das gemeinsame Ächzen der Bäume, die die Schneelast kaum halten können. Die farbigen Blätter sind zum Teil noch unter den Schneehauben zu sehen. Eine ungewohnt bunte Wintermärchenwelt – aber im falschen Moment und nicht ganz geheuer. Marc pfeift die Kids zurück ins Haus – alle haben Ausgehverbot.

Kurz danach wird es mit einem Mal dunkler und still im Haus: Stromausfall. Vitorias Bettzeug steckt in der Waschmaschine fest, alle Lampen sind aus und unsere Heizung funktioniert auch nicht mehr. Unser Besuch (Familie mit zwei Kindern) ist in Hochstimmung – der geplante Ausflug fällt flach, stattdessen gibt es ein echtes Abenteuer gratis.

Meine Laune dagegen befindet sich ab diesem Moment im freien Fall. Das Wort „Stromausfall“ ist viel zu harmlos für das, was es bedeutet. Das Schlimme ist nicht die Tatsache, dass der Strom weg ist (das kenn ich vom Zeltplatz), sondern dass man nicht weiß, wie lange er weg ist und wann es vorbei ist – von Stunden bis Tagen ist hier alles drin.

Im Gegensatz zum Sommer, wo die Sorge vor allem den verderblichen Sachen im Kühlschrank galt, ist es diesmal eine Herausforderung, halbwegs warm zu bleiben. Draußen ist es unter Null. Wir haben Glück: Unser Gasherd und der Kamin funktionieren. Aber aufgepasst vor dem „silent killer – carbon monoxide“: Die Idee, mit dem Gasherd zu heizen, ist wenig effektiv und nicht ganz ungefährlich. Und mit dem Kamin muss man ebenso aufpassen: Bei Freunden von uns gehen dauernd die Kohlenmonoxid-Detektoren an – und dann muss man mal gut lüften! Schlafen vor dem Kamin würde ich mir daher gut überlegen …

Zugegeben: auf die Idee, den Grill ins Haus zu holen oder sich in der Garage ins laufende Auto zu setzen, um sich mal ordentlich aufzuwärmen, wäre ich wahrscheinlich nicht gekommen. Aber wer weiß, was für Ideen man so entwickelt, wenn einem kalt ist. Kleiner Trost für mich: Auf dem Herd können wir heißes Wasser für meine Wärmflasche machen.

Samstagnachmittag
Wir machen es uns also drinnen gemütlich, so gut es geht. Heute verlässt niemand mehr dieses Haus, der nicht unbedingt muss. Es gibt nichts zu tun, alle Pläne sind hinfällig. Vitorias Party und der „monster mash“ von Ole und Paul sind abgesagt. Vitoria nimmt es gelassen und schläft kurze Zeit später laut schnarchend vor dem Feuer ein, die Gesellschaftsspiele werden rausgeholt, wir sitzen zusammen, es gibt Wein und Bier. Und als es draußen dunkel wird, teilen wir ganz einträchtig unsere Taschenlampen auf – wir sind elf Leute und haben fünf Lampen: pro Familie zwei und Vitoria eine. Wenn man mit Taschenlampe unterwegs ist, hat man irgendwie immer mindestens eine Hand zu wenig, finde ich. Wieso habe ich mir bloß immer noch keine Stirnlampe gekauft?

Samstagabend
Alle, die sich darauf einlassen können, haben eine Menge Spaß. Nur mir will es an diesem Abend nicht so recht gelingen. Ich sehne mich eher nach Ruhe. Aber dann kommt eine wahre „Marc-Aktion“ – aber diesmal eine richtig gute! Er verschwindet für einige Zeit in der Garage und plötzlich geht eine Lampe im Wohnzimmer an – einfach so, „deus ex machina“– und meine Laune macht einen Quantensprung! Seine McGyver-Nummer erklärt er euch aber selbst.

 

Marc erzählt:
Als es in draußen dämmerte, hatten wir es durch den Kamin zwar warm, aber es wurde dunkel und die Kinder konnten nicht mehr richtig spielen. Wir hatten keinen Stromgenerator zur Verfügung, aber in den Testfahrzeugen der Firma (Minivans vom Typ Toyota Sienna) haben wir Inverter eingebaut, die direkt am Motor hängen und die für die Spezial-Elektronik im Auto aus den 12 Volt normale 110 Volt Netzspannung erzeugen. Ich bin also schnell mit unserem Privat-PKW ins Büro und habe den Wagen gegen ein Messfahrzeug getauscht. Diesen Messwagen habe ich auf der Einfahrt mit laufendem Motor geparkt und ein Verlängerungskabel in den Inverter gesteckt. Kurze Zeit später ging das Licht im Wohnzimmer an, und sowohl der Raum als auch die Stimmung hellten sich schlagartig auf. Alle waren echt überrascht und begeistert. Wir waren das einzige Haus in der Carton Road, das erleuchtet war, obwohl die Amerikaner solche Stromausfälle aufgrund der oberirdisch verlegten Kabel häufiger haben. Es gibt wenig Vorsorge für solche Fälle.

Als es am folgenden Morgen ziemlich schattig im Haus war, war klar, dass Licht alleine nicht reicht. Wir haben in unserem Haus eine Gasheizung im Keller – die lief zwar grundsätzlich, allerdings funktionierte die Pumpe nicht, die die Wärme im Haus verteilt. Ich habe mir das mit einer Taschenlampe genauer angesehen und dann festgestellt, dass die ganze Heizungsanlage an einer Sicherung hängt. Diese Sicherung habe ich ausgebaut und die Heizung statt an das nicht funktionierende Stromnetz an ein weiteres langes Verlängerungskabel geklemmt und an den Messwagen angeschlossen. In diesem Moment ist die Heizung angesprungen und es wurde in allem Räumen wieder wärmer. Ich habe davor und danach nie so viel Lob für meinen Beruf („Ingenieur Elektrotechnik“) bekommen 😉 .

 

Später am Abend höre ich irgendwann wieder einen lauten dumpfen Knall im Garten – sehen kann man nichts, es ist alles pechschwarz draußen. Egal. Mir reicht es, ich will ins Bett und hoffe, dass morgen der Fünf-Meilen-Lauf im Central Park („Marathon Kickoff“) stattfindet – meine Laufsachen habe ich jedenfalls gepackt.

Sonntagmorgen, 30.10.2011
Am nächsten Morgen sind es nur noch elf Grad im Haus, ziemlich „schattig“ – das ist wie „Zelten im Herbst“. Und dabei ist der Strom gerade mal erst 18 Stunden weg. Meine Laune nähert sich der Außentemperatur – mein Lauf im NYC ist heute Nacht doch noch abgesagt worden, weil im Central Park die Bäume kreuz und quer liegen. Ich hatte mich so drauf gefreut, im Kostüm (extra gekauft!) die Runde dort zu drehen. Stattdessen nun Eiseskälte zuhause. Wie blöd …

Dann folgt die Begutachtung der Schäden: Der Rasen in unserem Garten ist nicht mehr zu sehen – eine dicke Schicht von Ästen, Blättern und Schnee bedeckt ihn vollständig. Drei baumgroße Äste sind runtergeknallt und unser driveway gleicht einem Hurrikan-Gebiet: Der Basketballkorb ist verbogen (noch vom Hurricane Irene), der Zaun liegt an mehreren Stellen platt auf dem Boden, zum Teil ist er hoch in die Luft gebogen. Im Baum genau über dem driveway baumelt ein dicker Ast nur noch an wenigen Fasern. Das Gleiche an zwei weiteren Bäumen im Garten, einer direkt neben dem Kinderzimmer.

 

Auf unserer Carton Road ist es auch nicht besser – alles ziemlich verwüstet. Drei Bäume sind umgefallen, einer aufs Auto des Nachbarn, einer knapp an der Haustüre einer anderen Familie vorbei. Überall liegen Äste oder hängen schlapp von Bäumen herunter, auf dem Boden Massen an Blättern und Schnee. Die Nachbarinnen, die mir begegnen, sind ausgesprochen deprimiert, genervt und auch alle ohne Strom. Und dann die armen Bäume – sie sehen ziemlich verletzt und verstümmelt aus! Vor allem um die tollen Magnolienbäume tut es mir richtig leid.

 

Marc spielt noch mal McGyver und irgendwie funktioniert danach die Heizung im ganzen Haus (absolutes Highlight 🙂 ). Gemeinsames Frühstück an der großen Tafel im „formal dining room“. Marc röstet draußen auf dem Grill Bacon sowie unser Toastbrot, und als dann auch noch Nutella drauf kommt, ist alles in bester Ordnung – zumindest für unsere Kids.

 

Sonntagnachmittag
Nachmittags habe ich mal Pause und darf nach Morristown ins Café. Auf dem Weg dorthin sieht man viele „trees hugging the street“ (auf Deutsch: die sind kurz vor dem Umfallen) und auch solche, die nur noch stehen, weil sie sich gerade auf eine Stromleitung stützen (hier hat man sogar die Chance, nicht nur erschlagen, sondern gleichzeitig „electrocuted“, also unter Strom gesetzt zu werden). An den Tankstellen sind jetzt schon lange Schlangen: Alle tanken ihre Autos voll und holen Sprit für die Generatoren.

Die eine Hälfte von Morristown hat aber Strom, und von daher sind einige Shops und die „coffeeplaces“ geöffnet. Alle Cafés sind total überfüllt – auch die halbe Nachbarstadt Madison ist hier. Diesmal haben die nämlich gar keinen Strom – beim Hurricane Irene war das umgekehrt, da pilgerte alles von Morristown nach Madison.

Man muss aufpassen, dass man im Café nicht über den Kabelsalat auf dem Boden stolpert – alle hängen mit ihren Laptops und Handys zum Aufladen an den Steckdosen. Ich treffe zufällig eine befreundete deutsche Mutter aus Madison – sie ist total schockiert: Ein Baum hat ihren Mann im Auto nur knapp verpasst, und dann ist ihrem Sohn, als er zur Haustür rausging, ein riesiger Ast vor die Füße geflogen. Viele geben ihren Freunden und Familien ein Lebenszeichen übers Handy, alle reden über den Sturm, die meisten tauschen sich über Erlebnisse aus und wünschen sich dann „good luck“. So eine Ausnahmesituation verändert die Dynamik unheimlich. Und ich lebe wieder auf: Wärme, Licht, Gemurmel, Kaffeeduft und das vertraute Gefauche der Kaffeemaschinen.

 

Am späten Nachmittag ist dann die Carton Road wieder hell erleuchtet – ein absolutes Highlight. Vitoria kommt endlich wieder an ihre Bettdecke ran und Marc kann seine McGyver-Konstruktion wieder abbauen. Wir gehören zu den Glücklichen, die schnell wieder Strom haben. Vielen anderen in Morristown geht’s leider anders – das erkennt man unschwer an den dunklen Ampeln und dem blauem Qualm aus dem Kamin.

Montagmorgen, 31.11.2011
Heute wäre Halloween. Aber daraus wird nichts.