Über die Allgegenwärtigkeit der amerikanischen Flagge habe ich schon oft genug geschrieben, ebenso über den überwältigenden Stolz, den die Amerikaner/innen für ihr Land empfinden und der einem als Nicht-Amerikaner/in manchmal ganz schön auf die Nerven geht. Und dann ist da auch noch der Fahneneid: Jeden Morgen sprechen etwa 70 Millionen Kinder und Jugendliche – die sich in vielerlei Hinsicht mehr voneinander unterscheiden als viele in Deutschland lebende Kinder – gemeinsam mit Blick auf die amerikanische Flagge den Spruch: „I pledge allegiance to the flag of the United States of America, and to the republic for which it stands, one nation under God, with liberty and justice for all.“ Alle Kids, egal welche Hautfarbe, welche Religion, welche Muttersprache – alle schwören auf die Flagge. In vielen Staaten ist das sogar Pflicht, so auch bei uns in New Jersey!
Das ist für unser Empfinden und im Hinblick auf unsere deutsche Geschichte etwas sehr Befremdliches: diese Uniformität, die Pflicht, das Annehmen einer bestimmten Pose (Hand aufs Herz, Blick zur Flagge) von Kindern, das Nachsprechen bzw. Herunterbeten eines nationalen Gelübdes – nein, so etwas kann uns Deutschen nicht so recht schmecken und muss verdächtig wirken.
So funktioniert Gemeinschaft
Aber (und das ist ein dickes ABER) vielleicht darf man das nicht mit deutschen Augen sehen, sondern muss es durch die Brille der heterogenen amerikanischen Gesellschaft sehen?! Im Hinblick auf die vielen verschiedenen Komponenten, aus denen sich die amerikanische Gesellschaft zusammensetzt, sind die Amerikaner/innen vielleicht darauf angewiesen, mit verschiedenen Ritualen ein Gemeinschaftsgefühl zu vermitteln, das stärker ist als die Diversität ihrer Bürger/innen und Bürger, die ja sicherlich auch Fliehkräfte verursacht. Jeder Mensch hat ein Bedürfnis nach Zugehörigkeit, und es ist wichtig, dass die Menschen hier, die ihre eigene Kultur weiter ausleben, sich auch einem größeren Ganzen zugehörig fühlen und eben nicht nur ihrer ursprünglichen Identität. Ansonsten bestünde sehr schnell die Gefahr, dass das Ganze zerfasert und in viele kleine Einzelteile zerfällt, die dann nicht mehr als Gemeinschaft funktionieren könnten.
Da macht es also vielleicht wirklich Sinn, im Interesse der Stabilität der gesamten Nation solche Maßnahmen wie den Fahneneid fest zu „installieren“ und auch zu forcieren, um den Menschen eine gemeinsame Identifikationsbasis zu geben.
Der originale Fahneneid ist 1892 von Francis Bellamy übrigens aus genau diesem Grund verfasst worden war. Da heißt es: Bellamy „viewed this pledge as an inoculation (Impfung) that would protect immigrants and native-born but insufficiently patriotic Americans from the „virus“ of radicalism and subversion“ – der Fahneneid als Impfung gegen den Virus der Radikalität und der Staatsgefährdung. (Quelle: https://en.wikipedia.org/wiki/Francis_Bellamy)
Für mich ganz persönlich ist es nach wie vor ziemlich gewöhnungsbedürftig, diesem Ritual beizuwohnen und ich fühle mich immer ziemlich fehl am Platz. Aber mit der USA-Brille auf der Nase macht es für mich schon mehr Sinn.