Ich vermisse allerdings „richtige Tafeln“ und Kreide! Hier gibt es nur sogenannte „dry-eraser-pens“ (trocken-abwischbare Stifte, Riesensauerei), die auf weißen Kunststofftafeln schreiben. Außerdem hat man überall dunklen Teppichboden, die Kids sitzen an Einzelpulten (es gibt keine Zweier-Bänke), überall läuft die Klimaanlage (und das oft störend laut). Die Fenster sind zum Hochschieben (wie in vielen Filmen) und klemmen allesamt. Aber das sind Kleinigkeiten, die meine Freude, endlich wieder unterrichten zu können, nicht wirklich trüben. Alle Wände in meinem Klassenraum sind übrigens voll mit „klugen Sprüchen“ (Amerikaner/innen haben eine Schwäche für gute Sprüche, wie mir scheint), die sicherlich bis ans Lebensende reichen. Ich unterrichte im Moment genau unter einem Spruch von Otto von Bismarck: „The nation that has the schools, has the future.“ Das Einzige, was mich richtig nervt, sind die elektrischen Bleistiftspitzer, die es in allen Klassenräumen gibt. Wenn also ein Kind den Bleistift (anscheinend das Lieblingsschreibgerät der meisten) spitzen will, dann steht es einfach auf, geht nach hinten, und dann heult die Maschine auf (und alle Konzentration ist weg). „Hand“-Spitzer habe ich noch bei keinem gesehen. Übrigens kommt man auf einmal in ein Dilemma, weil man wieder in offiziellen Zusammenhängen mit deutschen Familien zu tun hat: „Du“ oder „Sie“? Aber klar, das englische „you“, was man mit den Eltern austauscht, entspricht eben in diesem Zusammenhang dem deutschen „Sie“ – da muss man blitzschnell schalten, wenn man gemischte Elternpaare vor sich hat und zwischen den Sprachen hin- und herwechselt. Aber es klingt auf einmal wieder ungewöhnlich formell, nachdem man monatelang das „you“ und den Vornamen für Leute wählt, die einem wildfremd sind.
Recht
Britta bat mich, auch etwas zum Thema Vertragswesen zu schreiben (Juristen mögen mir die laienhafte Darstellung verzeihen): Anders als in Deutschland, wo die Eckpfeiler des Rechts in den Gesetzestexten absolut festgeschrieben werden, wird hier im Angelsächsischen vieles auf vorangegangene Rechtsprechungen zurückgeführt (Präzedenzfälle). Um in diesem Chaos für Ordnung zu sorgen, werden in den Verträgen extrem viele Details explizit geregelt. Als Konsequenz sind die Verträge oft sehr lang und ausführlich (40+ Seiten für einen einfachen Dienstleistungsvertrag sind keine Seltenheit, wobei die längsten Passagen den Themen Haftung und Haftungsfreistellung sowie Schadensersatz und geistiges Eigentum (IPR – internationales Privatrecht) gewidmet sind. Das führt dann auch dazu, dass man beim einfachen Mieten eines Kanus auf dem Delaware River an ca. zehn Stellen seine Initialen auf den Vertrag setzen muss, bevor man dann unten vollständig unterschreibt. Auf diese Weise gehen sie auf Nummer sicher, dass man bestimmte Passagen zur Kenntnis genommen hat und den Veranstalter nicht verklagen kann. Diese Angst vor Haftung sorgt auch dafür, dass die Betreuerinnen in der preschool NIE alleine mit den Kindern auf der Toilette sein dürfen, denn im Falle einer Klage wegen „sexual harassment“ stünde Aussage gegen Aussage. Ich habe da gerade selbst erste Erfahrungen mit dem US-Recht machen dürfen („In the US, anybody can sue anybody on anything“), doch auch dazu mehr im Oktoberbrief.
Die September-Flops :-(
Erster Flop ist der Paperwork-Frust. Die spinnen, die Amerikaner/innen: Zu Beginn eines neuen Schuljahres müssen Eltern hier etliche Formulare ausfüllen, auch wenn wir genau dieselben schon vor acht Monaten ausgefüllt haben und sich einfach die allermeisten Dinge nicht geändert haben (wie z. B. Adresse, Telefonnummern etc). Bei vier Kindern kostet uns diese Ausfüllarbeit mindestens zwei Abende und mich ziemlich viele Nerven: Das Beste sind die Formulare, auf denen man drei Mal unterschreiben muss, nämlich so ungefähr nach jedem Satz. Hier eine kurze Liste von den Papieren, die wir für Theo und Tim ausfüllen mussten (oft mehrere Seiten pro Punkt und z. T. auch mit der Unterschrift der Kids): Direct Donation Drive Morris School District Emergency Card Student Health Questionnaire MSD user agreement of understanding Transportation Department Universal Sign-off form Internet Use Policy Transportation Rules Photo Permission Form Character Code Annual Integrated Pest Management Notice … Puh! Marc liegt immer noch mit der preschool von Ole und Paul im Clinch, weil die wollen, dass wir wieder mit den Kids zum Arzt gehen und 400 Dollar dafür ausgegeben. Und das nur, um das gleiche Formular (Universal Health Child Record) von Ole noch mal ausfüllen zu lassen (klar, mit leicht anderem Körpergewicht und Größe). Da wird man ganz schnell zum Querulanten abgestempelt, obwohl man nur seinen Menschenverstand benutzt. In dieser Hinsicht ist Deutschland ein Paradies: Eine Unterschrift reicht da für drei Jahre (Kita) oder sogar vier Jahre (Grundschule) – purer Luxus.
Der „Spiel-Zwinger“
Unsere preschool ist in ein neues Gebäude umgezogen. Enttäuschend ist der Spielplatz, der immer noch eher ein Zwinger ist als ein Außengelände. Der Parkplatz ist dagegen wieder gigantisch groß (bloß keinen Meter zu weit laufen!). Macht euch auf dem Foto selbst ein Bild vom neuen „playroom“ der preschool (als Alternative zum Rausgehen bei „schlechtem“ Wetter, d. h. wenn mal ein Wölkchen am Himmel zu sehen ist!). Der neue Spielraum ist kalt und wenig einladend. Die Kids, die sich endlich bewegen wollen, dürfen im hinteren kleineren Teil laufen (auf vielleicht 16 Quadratmetern), die anderen spielen davor auf dem Boden. Das rote Spielelement darf übrigens nur bekrabbelt werden, sich darauf zu stellen ist verboten (zu gefährlich!). Der Aufkleber auf einem SUV einer Mutter unserer preschool: „America was founded by right-winged extremists“ – da muss ich gleich an die tea party denken, die auch schon zweimal hier in Morristown war und gleich die ganze Stadt lahmgelegt hat mit Hetztiraden gegen Obama …
“Everybody freeze“
Beim preschool-Elternabend (Back-to-school night) erklären sie uns ganz genau, was passiert, wenn ein Kind in die Hose gemacht hat: Das Kind wird ins Badezimmer geschickt, dann wird eine weitere Lehrperson dazugeholt, die gemeinsam mit der ersten beim Wechseln der Kleidung dabei ist. Klingt ziemlich kompliziert – ich habe zufällig bei Ole in der Gruppe eine solche Situation erlebt – eine ganze Kindergartengruppe in Aufruhr wegen einer Pipipfütze: „Everybody freeze“ (lauter Ruf der Hauptlehrerin), alle Kinder gucken auf, fragende Gesichter, dann war der Übeltäter (hochroter Kopf) schnell identifiziert, tuscheln, dann eine EWIGKEIT warten, bis eine dritte Lehrkraft gefunden war – zwei gingen dann mit Kind auf die Toilette, die dritte „bewachte“ den Rest der Kids. Ich wollte den armen kleinen Kerl instinktiv einfach in den Arm nehmen und ihm sagen, dass alles o. k. ist. Wäre vielleicht für ihn doch wichtiger gewesen als die zweite Lehrkraft zur Kontrolle der ersten Lehrkraft. Ich habe manchmal den Eindruck, dass ganz kleine Dinge hier ziemlich verkompliziert werden. In meinen europäischen/deutschen Augen führen diese extremen Maßnahmen (sie wollen das Kind natürlich schützen, und auch sich selbst vor Missbrauchsklagen bewahren) zu absurden Situationen, in denen manchmal die Spontaneität und Menschlichkeit verlorengehen. Auf der anderen Seite ist es natürlich richtig und wichtig, die Gelegenheiten für Missbrauch so gering wie möglich zu halten. Jedenfalls ist die Umsetzung, die sie hier haben, nicht so überzeugend und wirkt aufgesetzt. Aber wie dann? Schwierige Sache. Ich dachte bisher immer, dass ich schon recht gründlich bin in allem, was ich so tue (und das wirft mir Marc manchmal vor), aber ich bin hocherfreut zu sehen, dass da noch viel mehr drin ist (et voilà, Marc!).
Marshmallow feet
Zum Abschluss noch etwas Harmloses, bei dem ich immer schmunzeln muss: Wenn die Kinder in der preschool leise die Treppen hinaufgehen sollen, dann müssen sie alle hintereinander, rechts an der Wand entlang und ohne zu reden gehen (eben diszipliniert, soweit so gut). Wenn man dann aber doch ihre Schritte hallen hört, dann heißt es: „Remember, please walk on marshmallow feet.“ Das ist doch mal richtig anschaulich 🙂 und macht mir immer sofort Appetit. So, das war’s für diesen Monat – wir sind zufrieden, dass es endlich wieder runder läuft und die Zukunft für uns hier wieder bunter aussieht. Im Oktober hoffen wir auf einen sonnigen Indian Summer und die Kids fiebern schon jetzt ihrem ersten echten Halloween entgegen.
Die magische Elf
Bei uns hat eine neue Ära angefangen: Alle fragen einen jetzt: „What are you guys doing over the summer?“ Das heißt dann soviel wie: „Was tut ihr in den nächsten drei Monaten?“ Der amerikanische Sommer fängt am Memorial Day (Ende Mai) an und geht bis Labor Day (Anfang September). Es gibt ab Mai sogar extra „Sommer-Kalender“, die von Juni 2010 bis August 2011 gehen. In dieser Zeit gelten andere Gesetze, denn die Schule ist vorbei und die Kids haben 11 – in Worten „ELF!“ – Wochen frei. Schulbusse haben ebenso lange Ferien. Ole (4) und Paul (3) haben sogar noch zwei Wochen länger preschool-frei. Das alles stellt nicht nur unser Leben auf den Kopf, sondern ist auch eine Herausforderung für viele andere amerikanische Familien hier. Die Zauberworte in diesem Zusammenhang sind „Pool“ oder „summercamp“. Fast alle Familien werden also Mitglied in einem der örtlichen Freibäder (für mehrere hundert Dollar). Heißt: Die Kinder springen morgens in ihre Badesachen und verbringen den Tag am Pool, sprich Freibad. Das macht hier (fast) jeder – ich könnte mir das allerdings mit unseren Vieren nicht so gut vorstellen. Je nachdem, wie weit man vom Pool wegwohnt, zahlt man zwischen 350 und 500 Dollar für die Familienmitgliedschaft.
Zeugnisse auf Amerikanisch
Theo (8) und Tim (6) bringen Zeugnisse mit nach Hause. Wir sind total erstaunt, weil sie so komplett anders sind als die in Deutschland – keine einzige Note, super detailliert werden die Fertigkeiten/Kompetenzen in jedem Fach heruntergebrochen und dann beurteilt. WAHNSINN – was für eine Arbeit für die Lehrkräfte. Am Ende gibt es noch einen Bericht von den Klassenlehrer/innen. Wer Interesse hat – guckt es euch mal an – aber macht euch einen Tee, denn es könnte länger dauern. 🙂 Zeugnis Theo Zeugnis Tim
Glühwürmchentheater
Tim (6) hat sein school play „BUGZ“ (frei übersetzt “Krabbelgetier“): Er spielt eine fire fly (ein Glühwürmchen). Das anschließende Blitzlichtgewitter und das gekonnte, profihafte Posieren der amerikanischen Kinder (manche sind gerade mal fünf Jahre alt!) vor den Kameras ihrer Eltern sind beeindruckend – wo lernen die das nur? Theo wird acht und spielt einen Soldaten An seinem Geburstag feiert Theo morgens mit Freunden seine Star-Wars-Party, nachmittags gibt es ein großes Sommerfest mit unseren neuen Bekannten im Garten („backyard“ sagt man hier). Ein paar Tage später hat er sein school play „Historical nonsense“: Er spielt einen Soldaten der amerikanischen Armee im Unabhängigkeitskrieg, die unter der Führung von George Washington den harten Winter von 1779/80 in Morristown ausgeharrt hat. Und: Er spricht seinen Teil glasklar und flüssig – echt toll!
Abschiede
Am 21. Juni ist der letzte Schultag von Theo (jetzt 8) an seiner jetzigen Grundschule (nur Kindergarten, 1. und 2. Klasse) und so gibt es für seine Jahrgangsstufe eine moving-up ceremony – er kommt im September auf eine neue Schule, dann ist er im 3. Schuljahr. Ein paar Tage später gibt es die Abschiedspartys zweier Expat-Familien; zu einer gehört leider auch Tims Freund Justus. Wie schade, kaum hat man sich etwas kennengelernt, muss man sich schon wieder verabschieden …