Am 20. Dezember kommt ein wirklicher Dämpfer, der ganz Morristown lähmt. Beim Einkaufen erfahre ich von einer Kassiererin, dass auf der James Street ein Kleinflugzeug abgestürzt ist – 400 Meter neben unserem Haus! Wollte Marc nicht heute fliegen gehen? Ich erwische zunächst nur die Mailbox, aber bevor ich wirklich panisch werden kann, hebt er dann einige Minuten später doch ab. Schreck, lass nach! Und weil ich keine Gafferin sein will, nehme ich nicht die besagte Straße nach Hause, sondern entscheide mich dazu, über die Autobahn zu fahren. Großer Fehler, denn schon auf der Auffahrt sehe ich, dass da alles steht. Zu spät. Nichts bewegt sich. Von Marc erfahre ich am Telefon, dass das Flugzeug auf der Autobahn heruntergekommen ist (genau dort, wo ich mit dem Auto stehe!) und dann quer über beide Bahnen geschleudert ist. Den Flügel hat es noch in der Luft verloren, und der ist bis in die James Street geflogen (das ist dort, wo ich immer joggen gehe, wenn ich nach Morristown reinlaufe!). Helikopter und Autos überall. Es ist ausnahmsweise einmal eng auf dem Highway, und die großen Autos helfen auch nicht gerade dabei, eine Rettungsgasse zu formen. Zudem scheinen einige Fahrer/innen die Ausmaße ihrer eigenen Wagen nicht zu kennen und sind noch nicht mal in der Lage, nah an die Leitplanke zu fahren! Nach eineinhalb Stunden (für 300 Meter!) passiere ich endlich die Unfallstelle. Am Mittelstreifen ist alles verbrannt und auf der Fahrbahn liegen überall Flugzeugteile herum. Ich kann kaum glauben, wie wenig von dem Flugzeug übrig geblieben ist – es sieht gerade mal aus, als habe ein Müllauto seine Ladung verloren! Die Wrackteile liegen mit einem Radius von einem Kilometer um die Absturzstelle verteilt. Morristown erleidet einen Verkehrskollaps, weil die Autobahn gesperrt wird. Und für den Rest des Tages kreisen Hubschrauber über unserem Haus. Traurige Bilanz: Die vierköpfige Familie des Piloten und ein Geschäftsfreund (Vater von drei Mädchen aus NYC) sind tot. Als Ursache wird Vereisung der Tragflächen vermutet. Wie durch ein Wunder wurde beim Aufprall auf der Autobahn kein Wagen getroffen (es war zehn Uhr morgens). Theo (9) und Tim (7) erzählen aufgeregt, …
Von Kranz bis Kitsch
In der ersten Hälfte des Dezembers bringen die Leute ihre Häuser und Gärten in vorweihnachtliche Stimmung. Wie bereits vergangenes Jahr bin ich angenehm überrascht von den vielen geschmackvoll geschmückten Fenstern, Türen und Gärten. Besonders die Türen haben es mir angetan: Mit Girlanden aus echtem Tannengrün umrahmt, einem grünen Kranz in der Mitte und einigen Lichtern geschmückt, sehen die Eingangstüren der im Kolonialstil gebauten Holzhäuser (typisch für unsere Gegend) so gemütlich und einladend aus, dass man am liebsten anklopfen und sich mit einer Tasse Tee an den Kamin setzen möchte. Viele weiße Lattenzäune sind ebenso mit grünen Naturgirlanden und kleinen Lichtern geschmückt. Ich probiere das Ganze direkt auch mit unserem Holztreppengeländer – sieht schön aus und verbreitet Weihnachtsstimmung im ganzen Haus.
Sharing is caring!
Vor „Kings“, unserem überteuerten Minisupermarkt in Morristown, stehen jetzt oft Spendensammler/innen von der Heilsarmee, die unaufhörlich mit ihrem goldenen Glöckchen (das sie nach oben halten!) die Leute auf sich aufmerksam machen. „Sharing is caring“ – viele Leute werfen nach dem Einkauf ein bisschen Kleingeld in den großen Messingeimer. Einer der Angestellten trägt den ganzen Dezember über eine Weihnachtsmütze auf dem Kopf und eine blinkende Minilichterkette um den Hals – er sieht damit etwas abenteuerlich aus, ist aber einfach immer gutgelaunt, saufreundlich und hilfsbereit. Abends erleuchten viele Lichterketten die Häuser und Gärten. Zugegeben, es gibt auch einige weihnachtlich beleuchtete Häuser, bei denen es die Besitzer/innen etwas zu gut meinen. Bemerkenswert finde ich die Lichterketten, mit denen viele Leute ihre Dachgiebel von außen schmücken – das müssen halsbrecherische Aufhängaktionen sein, aber es lohnt sich wegen der schönen Wirkung. Morristown und Madison mögen zwar keinen über tausend Jahre alten Dom haben wie Aachen, aber an Gemütlichkeit stehen sie vielen deutschen Städten an nichts nach – meine Meinung ;-). Beim Laufen sehe ich morgens tatsächlich zwei Männer, die ihr Holz vor der Tür hacken – das sieht man doch in Deutschland eher nie, oder? Umgefallene Bäume hatten wir ja genug. Und ein Mann läuft mir morgens in Morgenmantel und Weihnachtsmütze über den Weg, um die Zeitung von der Einfahrt aufzuheben. In einigen Vorgärten und Parks sieht man Krippen von klein und fein bis zu solchen mit aufgeblasenen, lebensgroßen Figuren – viele schon keine Grenzfälle mehr, sondern echt krasser Kitsch. Und in öffentlichen Gebäuden schmücken Unmengen von gigantisch großen Weihnachtssternen die Hallen.
Vorsicht Fettnäpfchen!
Die Festzeit im Moment ist eine gute Gelegenheit, den Nachbarsfamilien mal etwas diskret in den Vorgarten zu spinksen – dachte ich zumindest. Also, alle unsere Nachbarsfamilien, die mit rot-weißen Candy Canes ihren driveway beleuchten, die dicke grüne Kränze an der Tür und hell erleuchtete Tannenbäume im Wohnzimmer haben, die feiern Weihnachten. Und sind damit aller Wahrscheinlichkeit zumindest gemischt-gläubig. So weit, so gut. In unserer Nachbarschaft (30 Häuser) gibt es aber nur ein einziges Haus, das mit einer Menorah geschmückt ist – dabei haben wir mindestens zehn jüdische Familien hier! Tja, da ging meine Rechnung wohl nicht auf. Und trotzdem: Obwohl ich inzwischen eigentlich weiß, wer in unserer Straße jüdischen Glaubens ist (von denen, mit denen wir Kontakt haben), stellt mir mein Gehirn immer wieder Fallen. Wenn Nachbarinnen, die keine Weihnachtsbeleuchtung im Garten haben, mich fragen „What are you doing for Christmas?“, dann stelle ich fast reflexartig die Gegenfrage „What are you doing for Christmas?“ Und sobald es raus ist, haue ich mir auf den Mund und fühle mich mal wieder so richtig ertappt. Die Leute haben bisher immer abgewunken und gesagt „Oh, it’s o.k.“, aber ich fühle mich immer wie ein Volltrottel. Dabei hatte ich mir geschworen, dass mir das nach Rosh Hashana, wo ich auch ins Fettnäpfchen getreten war (da hatte ich nur blöd geguckt, als mir eine Nachbarin mitten im September erzählte, dass sie mit der Familie große Neujahrsfeier gehabt hätte), nicht mehr passieren würde, aber 40 Jahre „Monokultur“ kann man nicht einfach wegwischen … Politisch korrekt gibt es für jedes der Feste eine Sondermarke bei der Post zu kaufen. De facto muss man allerdings zugeben, dass die Weihnachtsdekorationen hier so allgegenwärtig und übermächtig sind – da können die Menorahs nicht mithalten. In einem Zeitungsartikel im Wallstreet Journal steht ganz klar, dass als Antwort auf den Weihnachtstaumel Tendenzen zu beobachten sind, dass auch Hanukkah immer größer gefeiert wird: Viele Familien schmücken ihr Haus mit blauen und weißen Lichtern, Kinder feiern „latkes on roller skates parties“, Jugendliche machen „Vodka und Latkes Parties“, es werden Dreidel-Wettbewerbe im Land abgehalten und in NYC gibt es sogar eine gut besuchte Striptease-Show …
Unser Thanksgiving-Donnerstag
Wir haben zwei Alternativen: Morgens zur großen Macy’s Thanksgiving-Parade nach NYC fahren, bei der riesengroße Ballons durch die Straßenschluchten getragen werden, oder den lokalen „Turkey trot“, den Fünf-Kilometer-Lauf mitmachen. Mir ist der „Turkey trot“ wichtiger: Im Truthahnkostüm einfach mal „silly“ sein – eine spezielle Übung für mich als Deutsche. Die Leute nehmen es mit Humor, winken, hupen und wollen Fotos mit mir, und beim Rennen treffe ich tatsächlich noch einen anderen turkey, einige Siedler und zwei „Indianer“. Ich liebe diese Rennen – ist fast schon ein „family community event“. Neben den Läuferinnen und Läufern sind auch Kinder in Theos Alter, Kinderwagen und Hunde mit dabei.
Rosa Bäume, orangefarbene Kürbisse und rote Blätter
Die Bäume in Morristown tragen seit einigen Wochen alle dicke rosa Schleifen. Und auch sonst ist Pink überall zu entdecken: Schleifen in allen Größen, Klamotten, Haare, Kuchen, Tüten … selbst einige Männer laufen mit rosa Krawatten, Hemden und Kappen durch die Gegend – Hut ab, das finde ich klasse! Kein Wunder, denn es ist „Breast Cancer Awareness Month“ – eindeutiges Erkennungsmerkmal ist die rosa Schleife. Schon etwas verrückt: Trotz ihrer Prüderie sind die Amerikaner/innen bei diesem Thema – wie auch bei einigen anderen Krankheiten – viel offener und praktischer veranlagt als die Deutschen. Beim Frisör gibt es pinke Haarextensions – der Erlös wird natürlich gespendet. Selbst die Plastiktüten in den Shops sind pink, und auf der Rückseite ist direkt eine Anleitung abgedruckt „How to perform a breast self exam“. In NYC treffe ich am Ende eines Langlaufs im Central Park auf jede Menge rosa Leute, die teilweise etwas abgekämpft aussehen und sich in den Armen liegen (eine humpelt nur noch) – hier endet der Avon Walk for Breast Cancer – eine gigantische „Wohltätigkeitswanderung“ von 39 Meilen (immerhin 63 km!) – der in verschiedenen Städten der USA stattfindet. Der Erlös geht in die Brustkrebsforschung. Motto ist „In it to end it. Get in. Get empowered. Because every statistics is someone’s best friend.“ Es wird politisch korrekt angespornt: „… knowing that every step you take is helping women and men living with breast cancer“.
Vorbereitungen für Halloween
Die meisten Vorgärten zieren jetzt Halloween-Dekorationen und überall heißt es R.I.P. („rest in peace“) mit passendem Skelett. Und ich bekomme im Alltag wieder häufiger das flaue Gefühl des Blutabnehmens – neu entdeckt habe ich dieses Jahr Mini-Desinfektionsmittel, die am Schlüsselbund einiger Mütter Platz finden: Damit reiben sie ihren Sprösslingen gerne mal zwischendurch die Hände ein. Im „sick room“, dem Wartezimmer beim Kinderarzt, inmitten fiebriger und hustender Kinder beneide ich eine Mutter fast. Warum? Auf den letzten Metern vor dem Marathon im November krank zu werden und ihn zu verpassen, wäre schon echt mega-ärgerlich …
Schneesturm
Warum Knacken im Garten beunruhigend sein und wann Schlafen vor dem Kamin gefährlich werden kann. Wieso Halloween ausfällt und warum ich endlich verstehe, weshalb so viele Amerikaner/innen lieber ohne Zaun leben. Schneesturm trifft auf Indian Summer Zwei Tage vor Halloween, genau eine Woche vor dem Marathon, hält komplett überraschend der Winter Einzug und bringt direkt einen Schneesturm mit. Die Leute hier reden von einem „Nor’easter“ – einem großflächigen Sturm mit Winden aus dem Nordosten, der häufig sturmflutartige Regenfälle, in diesem Fall aber einen Schneesturm mit sich bringt. Es trifft alle hier unerwartet – ich habe bisher keine hochmontierten Scheinwerfer, keine Schneemarken in Nachbarsgärten und keine snowploughs gesehen. Was aber schlimmer ist: Die Natur ist nicht darauf vorbereitet ¬– schließlich haben wir hier noch Indian Summer, also recht dicht belaubte Bäume. Ein Chaoswochenende Ende Oktober Samstagvormittag, 29.10.2011 Wir sind gerade, wo wir immer sind um diese Zeit: Ole hat Schwimmkurs und schwimmt seine allerallererste Bahn im doggy-style. Ich bin in der deutschen Schule und meine sonst so coolen Schulkinder laufen immer wieder aufgeregt zum Fenster: „It snows? … No, that is no snow! … Yes, it is snow … it sticks, it sticks.“ Und tatsächlich: Schnee! Und er bleibt liegen! Nach zwei Stunden sind es fast 30 Zentimeter! Schlidderfahrt mit Sommerreifen nach Hause. Dort ist Vitoria ganz aus dem Häuschen, denn das ist der allererste Schnee in ihrem Leben! Auch die Kids sind begeistert und wollen direkt mit den Schlitten raus … Samstagmittag Und dann auf einmal überall ein ungewohntes, unheimliches Knarren und Knacken im Garten. So was habe ich noch nie gehört, aber gut hört sich das nicht an. Es ist das gemeinsame Ächzen der Bäume, die die Schneelast kaum halten können. Die farbigen Blätter sind zum Teil noch unter den Schneehauben zu sehen. Eine ungewohnt bunte Wintermärchenwelt – aber im falschen Moment und nicht ganz geheuer. Marc pfeift die Kids zurück ins Haus – alle haben Ausgehverbot. Kurz danach wird es mit einem Mal dunkler und still im Haus: Stromausfall. Vitorias Bettzeug steckt in der Waschmaschine fest, alle Lampen sind aus und unsere Heizung funktioniert …
Aufbruch nach der Sommerpause
Nach den drei Monaten Sommerpause ist ein großer Aufbruch zu spüren und alles wird wieder neu gemischt – fast so, als ob ein neues Jahr anfinge. Das gilt auch für die Jobs vieler Leute hier (kommt einem vor, als ob sie den Job so oft wechseln wie wie ihre Unterhosen). Jedenfalls gibt es für uns und die Kids erneut viele neue Gesichter und Namen in Schule und preschool – Direktorinnen, Klassenlehrer/innen, Fachlehrer/innen, Klassenkamerad/innen – alles anders.
9/11 und Morristown
Morristown liegt so nah an NYC, dass die Menschen hier den Terroranschlag ganz unmittelbar erlebt haben: Unser Makler hat die Rauchschwaden von seinem Garten aus gesehen. In unserer Reinigung hängt ein Familienfoto mit der Skyline New Yorks inklusive der Twin Towers. Und der Sohn eines Geschäftspartners von Marc war an dem Tag in NYC und hat sich danach sofort bei der Armee verpflichtet, so dass er gerade jetzt irgendwo in Afghanistan im Einsatz ist und Satellitenbilder auswertet. Ein Mädchen aus unserem Nachbarort Madison, das seinen Vater verloren hat, erzählt ganz begeistert, wie gut sie es hat, weil sie durch das Programm, das die betroffenen Familien unterstützt, jedes Jahr in ein kostenloses Summercamp fahren und dabei sogar noch eine Freundin mitnehmen darf. Da muss man dann doch schlucken …