Zehn Jahre Ground Zero

Von Gelöbnissen und Anti-Mobbing-Aktionen. Über zehn Jahre 9/11 und die Eröffnung des Memorials. Von köstlichen cheesesteaks und warum unser Au-pair Vitoria auf die amerikanische Polizei gar nicht gut zu sprechen ist.

Aufbruch nach der Sommerpause

Nach den drei Monaten Sommerpause ist ein großer Aufbruch zu spüren und alles wird wieder neu gemischt – fast so, als ob ein neues Jahr anfinge. Das gilt auch für die Jobs vieler Leute hier (kommt einem vor, als ob sie den Job so oft wechseln wie wie ihre Unterhosen). Jedenfalls gibt es für uns und die Kids erneut viele neue Gesichter und Namen in Schule und preschool – Direktorinnen, Klassenlehrer/innen, Fachlehrer/innen, Klassenkamerad/innen – alles anders.

Kick-off zum Happy New Year

Der Beginn des neuen Schuljahrs ist wie der Kick-off für ein neues Jahr, dessen Spannung über Halloween und Thanksgiving ansteigt und mit Christmas und New Year ihren ersten Höhepunkt erreicht, bevor es im neuen Jahr in ein dunkles Loch fällt und erst mit dem Erwachen des Frühlings wieder in Fahrt kommt – zweiter Höhepunkt ist dann der „summer“.

 

Viele Zeichen stehen auf Herbst

Wie letztes Jahr ist es tagsüber noch schön warm (20 bis 25 Grad), die Grillen zirpen laut und auch die chipmunks laufen einem noch über den Weg. Aber viele Zeichen stehen doch schon auf Herbst. Die Blätter fallen munter von den Bäumen (nach dem Frühstück rechen alle vier Kinder jetzt fleißig Laub vor dem Haus), die squirrels legen Vorräte für den Winter an und man sieht sie nur noch mit Eicheln u. ä. im Maul (dabei werden sie leider sehr unvorsichtig im Straßenverkehr – zurzeit sieht man viele platte squirrels auf den Straßen 🙁 ). Wir haben schon einige Gänseformationen gesichtet, die Starenschwärme fallen wieder ein und um 20 Uhr ist es dunkle Nacht.

 

Punkt Anfang September tauchen die ersten Kürbisse und Halloween-Dekos in den Geschäften auf, es gibt „Jets“-Basketballkuchen zu kaufen (die Saison ist eröffnet), und natürlich sind auch wieder überall „flu shots“ im Angebot: „It´s your health – it´s worth a shot.“

 

Nachwehen von Irene

In den Geschäften ist Hurricane Irene übrigens immer noch Thema – man hört es im Vorübergehen. Oft geht es ums Geld, das heißt die Kosten für die Renovierungen. Manche fühlen sich von den Versicherungen über den Tisch gezogen und müssen fünfstellige Beträge aus eigener Tasche bezahlen. Auch der Schulstart muss um einen Tag verschoben werden „due to power outages and storm damage recovery“ (wegen Stromausfall und Sturmschäden) – die restlichen Schäden vom hurricane müssen noch beseitigt werden. In Theos Schule sind Aula, Sporthalle und Cafeteria komplett renovierungsbedürftig, da sie voll Wasser gelaufen waren.

Gelöbnisse

Das Gute: Wir starten mit komplett anderen Vorzeichen als letztes Jahr: Damals gab es noch Chaos und viele Fragezeichen, ob wir wirklich hier bleiben – dieses Jahr läuft alles fast wie am Schnürchen, selbst Ole startet mit Routine und bleibt bis drei Uhr nachmittags in der preschool. Vitoria hat die „school-snack-Produktion“ fest im Griff und wir fräsen uns recht routiniert durch den „paperwork“-Berg von Schulen und preschool.

Sogar das „Gelöbnis auf die Parkregeln“ unterschreibe ich recht gelassen:

„I agree to abide by the following special parking rules and regulations, which may be modified from time to time: 1) During the hours of picking up and dropping off my child, I will park my motor vehicle only in the areas stipulated in the Parent Handbook. 2) I will exercise appropriate caution when entering, driving in, and exiting the parking lot. 3) I will not park … 4) I will not …“

“Ich stimme zu, mich an folgende besonderen Parkregeln und Parkvorschriften zu halten, welche von Zeit zu Zeit verändert werden können: 1) Während der Zeit des Abholens und Ablieferns meines Kindes werde ich mein Auto nur in den Bereichen parken, die im Elternhandbuch festgeschrieben sind. 2) Ich werde mit Vorsicht handeln, wenn ich auf den Parkplatz, ihn überquere und ihn verlasse 3) Ich werde nicht parken … 4) Ich werde nicht …“

An dieser Stelle: Gelöbnisse (pledges) sind hier an der Tagesordnung – selbst die „Officer of Customs and Border Protection“ (die misstrauischen Officer bei der Einreise) legen einen „pledge to our visitors“ ab, wie z. B. dass sie geloben, die Gäste mit Freundlichkeit und Respekt zu behandeln (so steht es an ihren Kabinen).
Und auch der IPM Coordinator („Integrated Pest Management Coordinator“ – der „integrierte Schädlingsmanagement-Koordinator“) ist ernannt und kommt wieder in Schule und preschool vorbei – na dann frohes Pestizid-Versprühen …

Der „Honeymoon“ nach der Rückkehr der Kinder (ich war ja zwei Wochen vor ihnen nach New Jersey zurückgekommen) ist jetzt übrigens endgültig vorbei. Mama gehört wieder fest zum Inventar, die Zeit der üppigen Liebesbekundungen ist abgelaufen. Jetzt heißt es „getting back into the groove“ – wieder in den Trott kommen.

Was im September geschah

Dieser Monat war vielschichtig – „nationwide“, „statewide“ – und auch bei uns im Kleinen gab es diverse Ereignisse.

 

Der September war für die gesamten USA ein denkwürdiger Monat, denn die Anschläge auf das World Trade Center jährten sich zum zehnten Mal. Das Thema ist natürlich auch sehr groß in den Medien. Das Wall Street Journal titelt: „Death of an American Dream“ und berichtet von den Angehörigen der 250 ausländischen Opfer, die damals umkamen. Ich besuche die Gedenkstätte, das sogenannte 9/11 Memorial in NYC, wo im Zentrum die „Fußabdrücke“ der beiden Tower stehen, markiert durch zwei zehn Meter tiefe Becken mit Wasserfällen. Drumherum ist immer noch eine große Baustelle mit vielen Kränen und viel Lärm (Bau am One World Trade Center und am Museum für 9/11). Trotzdem war ich positiv überrascht.
 

Schon gewusst?
Hier gibt es mehr Infos und Eindrücke zur 9/11-Site.

9/11 und Morristown

Morristown liegt so nah an NYC, dass die Menschen hier den Terroranschlag ganz unmittelbar erlebt haben: Unser Makler hat die Rauchschwaden von seinem Garten aus gesehen. In unserer Reinigung hängt ein Familienfoto mit der Skyline New Yorks inklusive der Twin Towers. Und der Sohn eines Geschäftspartners von Marc war an dem Tag in NYC und hat sich danach sofort bei der Armee verpflichtet, so dass er gerade jetzt irgendwo in Afghanistan im Einsatz ist und Satellitenbilder auswertet.

Ein Mädchen aus unserem Nachbarort Madison, das seinen Vater verloren hat, erzählt ganz begeistert, wie gut sie es hat, weil sie durch das Programm, das die betroffenen Familien unterstützt, jedes Jahr in ein kostenloses Summercamp fahren und dabei sogar noch eine Freundin mitnehmen darf. Da muss man dann doch schlucken …

Empty Sky-Gedenkstätte

Marc und ich besuchen die neueröffnete 9/11-Gedenkstätte Empty Sky im Liberty State Park in New Jersey. Sie liegt direkt gegenüber dem Ground Zero, dazwischen ist nur der Hudson River. Das Memorial besteht aus zwei Stahlwänden (ca. neun Meter hoch und 63 Meter lang), die die eingestürzten Twin Towers symbolisieren sollen. Alle Namen der 746 Opfer aus New Jersey (von 9/11 und von dem Angriff im Jahr 1993 auf das WTC) sind in die Wände eingraviert. Der Name „Empty Sky“ basiert auf dem gleichnamigen Song von Bruce Springsteen aus dem Jahr 2002, in dem er den leeren Himmel in NYC beklagt, wo einst das WTC stand.

Unmittelbar vor der Empty Sky-Gedenkstätte sind zwei Teile der verbogenen Stahlträger aus den zerstörten Twin Towers angebracht – dort werden Blumen, Flaggen und kleine Nachrichten niedergelegt. Wir sind erst am späten Abend da – daher ist es dunkel und wir sind fast alleine.

Back to school

Ansonsten versuchen wir, zurück in den Rhythmus des Schuljahres zu finden, nehmen wieder vier „Back-to-School Nights“ (Elternabende) mit und machen außerdem einen Wochenendausflug nach Philadelphia. Hier schlagen wir direkt drei Fliegen mit einer Klappe: Wir lernen eine lokale kulinarische Delikatesse kennen, das Philly Cheesesteak (super lecker), bewegen uns mal wieder so richtig (ich beim Halbmarathon, die Kids beim Marschieren zum Treffpunkt) und fassen ein Stück amerikanische Geschichte an (Freiheitsglocke – Liberty Bell). Nur der Regensturm, der übers Land fegt, und die schiefen Baumriesen bei uns im Garten machen mich mächtig nervös. Ich fühle mich in unserem Haus nicht mehr sicher – und das stresst.

Ein „gegen-Schikane-Gesetz“

Außerdem gibt es bei uns in NJ seit dem 1. September ein neues Anti-Bullying Gesetz, das den Umgang mit Mobbingaktionen an jeder öffentlichen Schule in NJ eindeutig regelt und verschärft. Auslöser für diese Verschärfung war der Selbstmord eines Collegestudenten letztes Jahr, der übers Internet von seinem Mitbewohner mit einem privaten Film bloßgestellt worden war.
Ab jetzt können Schulkinder, die z. B. in der Mittagspause schikaniert werden, die Namen der bullies anonym bei der „Crime Stopper Hotline“ der Polizei angeben. Und alle Schüler/innen lernen in speziellen Kursen, dass es z. B. keine unschuldigen „bystanders“ gibt, sondern dass alle die Pflicht haben, „Psychoterror“ gegenüber Mitschüler/innen zu stoppen. Theo und Tim haben beide schon mit den Kursen in der Schule angefangen.

Das Thema geht groß durch die Presse: „Bullying law puts New Jersey Schools on Spot“ (das neue Anti-Mobbing Gesetz bringt Schulen in New Jersey in Zugzwang) (Wall Street Journal, Sept. 2011). Alle, von den Direktor/innen bis zur Caféteria-Hilfe, werden in diesem Bereich fortgebildet. Außerdem muss jede Schule Anti-Bullying-Spezialist/innen benennen (pro Schule eine Person, meist eine Lehrkraft), die innerhalb von 24 Stunden einen detaillierten Bericht über alle Beschwerden schreiben müssen. Die Begeisterung hält sich in Grenzen, weil die Schulen sich überrumpelt fühlen und weil sie fürchten, dass es nun noch mehr Beschwerden geben wird, die sie kaum bewältigen können.

 

Eltern und Schulkinder, also auch Theo und Tim, müssen ein umfassendes, 18seitiges Anti-Mobbing Regelwerk lesen und unterschreiben. Außerdem werden sie in einem speziellen Programm geschult (u. a. lernen sie die Unterschiede zwischen normalen Konflikten und Mobbing kennen, Ich-Botschaften senden, die Rolle der „bystanders“ (sollen immer was sagen), „telling vs tattling“ (also den Unterschied von „etwas sagen und petzen“). Hört sich doch spannend an. Ist davon eigentlich schon etwas in Deutschland angekommen? Weiter unten gibt es ein Schulquiz zu diesem Thema – testet doch mal, wie fit ihr in diesem Bereich seid!

 

Schon gewusst?
Was steckt hinter den Feiertagen „Rosh Hashanah“ (29. September) und „Jom Kippur“ (9. Oktober) ?

Vitoria und die amerikanische Polizei

„Ring, Ring“ – Anruf von Vitoria: Wildes Schluchzen – sie erzählt etwas von Polizei und davon, dass ich sofort kommen soll: „I don’t understand. I don’t understand. You talk to her.“ Kurze Pause – dann die wilde Schreiattacke einer zweiten Stimme: „Get back in the car. Get back in the car. Get back in the car.“ Das hört sich nicht gut an.

Was man an dieser Stelle wissen muss: Im Gegensatz zur deutschen Polizei überholt einen die amerikanische Polizei auf der Straße nicht, sondern sie bleibt mit wildem rot-blauen Geblinke und Geheule hinter einem (im Dunkeln sieht das aus, als ob ein Ufo hinter einem landet – ihr kennt das aus Filmen!). Wenn man im „verfolgten“ Auto sitzt, ist danach folgendes Vorgehen angesagt:

Rechts ranfahren, Scheibe runterkurbeln, Hände ans Lenkrad und warten. Und dann artig und respektvoll (oder sogar ein bisschen unterwürfig) antworten: „Yes, Sir …, no Madam …) und bloß keine falsche Bewegung – man weiß ja nie, ob der/die Polizist/in nicht denkt, dass man da gerade seine Waffe rausholt.

Die Polizei lässt dabei ihr Weihnachtsbaum-Geblinke die ganze Zeit an – von daher war es für mich nicht schwer, Vitoria in Morristown zu finden. In Tränen aufgelöst sagte sie immer wieder, dass sie nichts falsch gemacht habe. Der weibliche Officer sah das anders und listete mir ziemlich verärgert Vitorias sämtliche Vergehen auf: über Rot gefahren, halbe „Verfolgungsjagd“ um den Marktplatz (Vitoria hat nicht sofort angehalten), ohne jede Papiere unterwegs (keine Foto-ID, kein Führerschein, kein Pass, gar nichts – Vitoria?!). Dazu habe sie auch noch ziemlich darauf insistiert, dass sie nichts falsch gemacht habe und habe keine Reue gezeigt. Dann ist sie aus dem Auto gestiegen (!) und zur Polizei hinübermarschiert (ganz schlechte Idee hier in Amerika…) – viel mehr kann man eigentlich nicht falsch machen…

Ihre Fahrerlaubnis für NJ ist sie jetzt jedenfalls mit sofortiger Wirkung los – was ein bisschen verrückt ist, weil sie den NJ Führerschein ja dafür erst mal bestanden haben müsste, was aber noch nicht der Fall ist. Wir werden also bald vom Gericht hören.

Alles in allem kein richtig guter Abend: Vitoria ist ziemlich mitgenommen und super sauer auf die Polizistin, weil sie so angeschnauzt worden ist, Theo und Tim mussten eine Stunde beim Karate auf ihren pick-up von Vitoria warten, ich habe die Back-to-School Night verpasst (auf der mich Vitorias Anruf erreichte), und nun muss ich alle Fahrdienste wieder alleine erledigen. Richtig zufrieden sind nur Ole und Paul, weil aus der wenig beliebten Aktion „Brüder vom Karate abholen“ ein richtiges Abenteuer geworden ist. Sie saßen die ganze Zeit mit großen Augen und Ohren mucksmäuschenstill hinten bei Vitoria im Auto und fanden das Ganze super spannend.

 

Ich bin auch schon angehalten worden. Der Polizist ließ mich erst mal „schmoren“, kontrollierte wohl gerade das Autokennzeichen mit dem Computer im Auto (sogenannter „spot check“). Dann erschien er am Fenster und blaffte mich ohne Begrüßung an: „Who’s Marc?“. „My husband. I’m his wife.“ Und dann sagt der doch: „I don’t care who you are. Just tell him that the registration has expired last month.” Mit den Worten, er hätte jetzt keine Zeit mehr, war er schnell verschwunden und der Spuk war vorbei. Das Beste: Das war alles Blödsinn – unsere Registrierung war noch viele Monate gültig. Was bitte schön sollte das also?

Ganz ehrlich – die amerikanische Polizei werde ich in Deutschland sicherlich nicht vermissen. Ihre Hierarchien und Kompetenzen finde ich undurchsichtig (Bezirkspolizei, Kommunalpolizei, Staatspolizei, Bundespolizei, selbst Sheriffs laufen einem über den Weg), und von außen wirkt das Ganze ein bisschen zu willkürlich. Ich traue amerikanischen Polizist/innen jedenfalls nicht richtig über den Weg – und habe immer Angst, dass man da auch großes Pech haben kann, je nachdem an welchen Typen man gerät. Da sind mir deutsche Polizist/innen eindeutig lieber.

School affairs

Paul (4) ist weiterhin in der preschool, bleibt aber jetzt auch bis 15 Uhr da und will oft gar nicht abgeholt werden. Er arbeitet mit Begeisterung an bunten Perlenketten und legt damit das Einmaleins – verrückt, er ist voll bei der Sache.

 

„I’m a kindergartener now“, erzählt Ole (6) die ganze Zeit super stolz. Die Kindergartenklasse ist die heilige Kuh der ganzen Montessori-preschool. Viele Eltern erwarten, dass die Lehrerin das erreicht, was der preschool-Newsletter verspricht: (…) „by the age of five, most Montessori children will begin to read, and many, having mastered addition and substraction, will be introduced to multiplication and division …“ Steht Multiplikation in Deutschland nicht erst im zweiten Schuljahr an? Unsere klare Ansage an die preschool lautet daher: „We don’t care if he learns to read this year!!!“ Hauptsache Ole bleibt in seiner Komfortzone. Abwarten.

Tim (7) ist jetzt im zweiten Schuljahr, übt fleißig lesen und schreiben und trifft seinen „alten“ Freund Deepak aus dem „Kindergarten-Jahr“ wieder.

 

Theo (9) ist Viertklässler und hat Glück und Unglück zugleich. Er ist super happy, dass er dieses Schuljahr mit seinen zwei besten Freunden in eine Klasse gekommen ist. Und er kommt in die „advanced math class“ – ab dem vierten Schuljahr werden also die Kinder schon nach Fähigkeiten getrennt.

Aber er bekommt auch die Folgen vom hurricane zu spüren: Cafeteria und Turnhalle seiner Schule sind eine Baustelle nach der Überschwemmung. Die Konsequenzen: Auf dem Speiseplan stehen „until further notice“ vier Mal pro Woche Truthahnbrötchen mit Salatblatt, ein Mal Thunfischbrötchen mit Salatblatt alternativ zu PBJ (Peanut-Butter-Jelly-Sandwich). Arme Kids, die das für die nächsten Wochen essen müssen. Lunchbreak und Sport gibt es bis auf Weiteres nur noch im Klassenraum (Wie soll das gehen? Wie wird Theo diesen Bewegungsmangel aushalten? Machen die dann nur „cup staking“ beim Sport, oder was?).

Vier Mal Back-to-School Nights

Der typische amerikanische Elternabend an den Grundschulen läuft so ab:

Rede
Zu Beginn gibt es die Rede der neuen Schulleiterin an die gesamte Elternschaft: zuckersüß, unterhaltsam und knallhart – ein typisch amerikanischer Mix:
„Thank you … thank you … our great/gifted pupils/talented students, our wonderful/fabulous/hard-working teachers … einige Witze eingestreut als Anekdoten … I´m honored … I`m proud … privileged. Never! … Ever! … This policy will be strictly enforced“ … Do not under no circumstances … (z. T. unsinnige Sicherheitsregeln), I already fell in love with this school. Thank you … Thank you …“

Uauh! In Amerika wissen wirklich alle, sich und ihre Arbeit zu präsentieren – ist ja auch okay. Von den Lobeshymnen auf ihre Lehrer/innen könnten sich deutsche Schulleiter/innen etwas abgucken – ein bisschen Lob hat noch niemandem geschadet (auch deutsche Lehrkräfte haben eine Seele!).

„Love note“
Anschließend geht es in die Klassenräume der Kinder. In Tims Klasse finden die Eltern auf dem Platz ihres Kindes eine „love note“ – einen kleinen Brief an uns geschrieben (finde ich eine schöne Sache). Anschließend wird das akademische Programm für das kommende Schuljahr per Powerpoint-Präsentation vorgestellt.

Class moms
Der Tagesordnungspunkt „Wahl des Klassenpflegschaftsvorsitzenden“, wie ich ihn aus der deutschen Schule kenne, entfällt hier komplett. Eine offiziell demokratisch gewählte Elternvertretung gibt es nicht. Aber einige Mütter stellen sich als sogenannte „class mom“ zur Verfügung. Die Regeln, wer bei mehreren Mitstreiterinnen das Rennen macht, habe ich nicht verstanden – schien aber eher gekungelt zu sein. Es scheint vornehmlich um die Unterstützung der Lehrerin bei organisatorischen Aufgaben zu gehen, also z. B. um das Begleiten der Klasse bei Klassenausflügen u. ä. (von einem „class dad“ habe ich noch nie gehört – wie ungerecht).

Generalprobe für den Marathon

Ein Septemberwochenende geht’s für uns nach Philadelphia – wörtlich übersetzt aus dem Griechischen heißt das „city of brotherly love“. Philadelphia, oder Philly, wie die Leute hier liebevoll sagen, liegt direkt nebenan im Bundesstaat Pennsylvania (Hauptstadt ist übrigens Harrisburg, nicht Philadelphia). Die Stadt ist nicht nur im Zusammenhang mit der amerikanischen Unabhängigkeit und ihren sport clubs bekannt (z. B. Phillies (Baseball), Eagles (Football), Sixers (Basketball), Flyers (Eishockey), sondern auch für seine Spezialität, das „Cheesesteak“.

Bei einem Cheesesteak wird ähnlich wie bei einem Döner ein Brötchen (außen knusprig, innen weich) aufgeschnitten und dann mit dünn geschnittenem Steakfleisch gefüllt (auf die Idee muss man erst mal kommen), dazu geschmolzener Käse und glasierte Zwiebeln. Also quasi ein Hot Dog mit einem gehäckselten Steak (ohne Würstchen). Läuft euch schon das Wasser im Mund zusammen? Ich probiere es und was soll ich sagen… es war genial lecker (war sicher nicht mein letztes …).

Halbmarathon durch „Philly“

Sonntag ist Laufen angesagt: Ich laufe den Halbmarathon durch die Stadt und den Park, während Marc mit den Kids zum Anfeuern kommen soll. Bei mir läuft es gut – die Strecke ist schön flach und nicht zu voll. Jede Meile spielt eine Rockband, und dazwischen gibt es viele spannende Dinge auf den T-Shirts der anderen Läuferinnen und Läufer zu lesen („We run for our sons, Duchenne“, „I’m not slow – I’m pregnant“, „Run, walk or crawl – I’ll get there eventually“). Am Rand stehen immer wieder Leute, die einen anfeuern: „Looking good!“, „Good to see you!“, „Keep it up!“, „Almost done!“, „Almost there!“ …

Die Kids stehen mit Marc auch irgendwo an der Strecke, feuern die Läuferinnen und Läufer an und geben „free high five“, während sie darauf warten, dass ich vorbeikomme. Leider verpassen wir uns (Mist, nebenan spielt eine Band, so dass ich ihr Schreien und Rufen nicht höre) – das muss beim Marathon besser klappen. Ich gebe in der zweiten Hälfte noch mal richtig Gas. Nach 1:46 Stunden bin ich am Ziel – und überrascht, dass es schon geschafft ist.

 

Reunion hinter der Finish-Linie: Die Kids sind super schlecht drauf und schlapp. Marcs „travel light“-Strategie (kein Essen/Trinken mitnehmen, alles unterwegs kaufen) ging diesmal nicht ganz auf, denn entlang von Rennstrecken gibt es weder McDonalds noch Cafés, wo man einkehren kann. Ich gebe also meine üppigen post-race-goodies (Power-Riegel, gefrorene Früchte, Banane, salty snacks, Sportdrink, Gel-Power-Jelly-Beans) direkt weiter an halb verhungerte und verdurstete Kids, und Ole und Paul lassen sich nur mit einem „piggyback-ride“ (Huckepack-Nehmen) zum Auto wieder besänftigen (Frage: Sind die Kids vielleicht doch schon zu amerikanischen Couch-Potatoes geworden? Oder war das wirklich zu weit für sie?).

 

Als Entschädigung gibt es während des Fußmarsches zurück zum Auto entlang der Rennstrecke noch einiges zu sehen: zwei joggende Jongleure, eine Gruppe männlicher Läufer in rosafarbenen Tutus, einen Weihnachtsmann und einen Mann mit „Spiralteilen“ unter den Füßen. Wir sehen aber auch die Fußlahmen, die in Miniautos auf offenen Tragen abtransportiert werden.

… und am Ende die Kultur

Die Liberty Bell ist die Glocke, die geläutet wurde, als 1776 die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung in Philadelphia zum ersten Mal auf dem Independence Square (Unabhängigkeitsplatz) in der Öffentlichkeit verlesen wurde. Paul wundert sich, dass die Glocke „kaputt“ ist. Stimmt, sie hat einen Riss, weswegen sie heute nicht mehr läuten kann – trotzdem gehört sie zum Weltkulturerbe der UNESCO. Wir gucken uns noch die Independence Hall von außen an – den Ort, an dem die „Declaration of Independence“ unterschrieben wurde – und dann geht es ab nach Hause.

Ein Wochenende ganz nach meinem Geschmack – leckeres amerikanisches Essen, Sport und ein bisschen Kultur zum Schluss. Die Kinder sitzen jetzt auch soweit fest im Sattel, dass wir nun endlich damit anfangen können, das Land zu erkunden und Eindrücke mitzunehmen. Es hat ihnen, soweit ich das sehe, auch ganz gut gefallen.

Family Bits and Pieces September 2011

Ole (6) hat jetzt jede Woche einmal „social skills group“ – 45 Minuten Kleingruppen-Training beim Psychologen, um seine sozialen Fähigkeiten zu verbessern (auf dringende Empfehlung seiner Ergotherapeutin). Wir sind gespannt. Die Praxis ist um 16.30 Uhr jedenfalls immer pickepacke voll mit Kids zwischen vier und sieben Jahren, die mit iPad und Mutter darauf warten, dass die Psychologen und Psychologinnen sie zu ihren Sitzungen abholen – krass. Und Ole nimmt jetzt an einem Schwimmkurs für „special need Kids“ teil – angespornt von einem großen Lego-Set geht er tatsächlich ins Wasser. Für die Nichtschwimmer steht Kraulen auf dem Programm: „Splash, splash“ sagt er immer – (nicht wie die Formel fürs Brustschwimmen in Deutschland „Beine ran, zur Seite, lang, zusammen“).

 

Tim (7) macht weiterhin gemeinsam mit Theo Karate. Er schreibt zuhause seine allererste Geschichte auf Englisch (nur zu verstehen, wenn man es laut vorliest) und ist mächtig stolz.

Theo (9) spielt neuerdings French horn (Waldhorn), die Geschwister hören geduldig zu, wenn er Laute von sich gibt. Er hat jetzt einmal pro Woche „Band“ (Ich bewundere die Lehrerin, die mit totalen Anfängern ein Stück auf die Beine stellt). Paul sagt immer: „Theo, du hast deine Hupe vergessen!“ In seiner freien Zeit verschlingt Theo Harry Potter auf Englisch.

 

Paul (4) beschäftigt sich neben der Multiplikation ausschließlich mit einem Thema: „Wieso bin ich als letzter geboren (wie gemein)?“ Und da seine bisherigen Bemühungen, über Nacht so groß so werden wie die anderen, bisher erfolglos geblieben sind, kommt er eines Tages spontan mit einer neuen Strategie an: „Wenn wir noch ein Baby hätten, dann wäre ich nicht mehr der Kleinste“. Ab jetzt wird alles, was ihm zu klein wird, aufgehoben und kommentiert mit dem Satz „Das ist fürs neue Baby“ – damit hat er schon einige Verwirrung gestiftet.

Vitoria, jetzt mit Fahrverbot in New Jersey, fährt für eine Woche nach Florida ins Disneyland und schwärmt hinterher: „This was the best time of my life!“

Marc erlebt diesen Monat auch zwei Highlights: Er macht seinen ersten Cross-Country-Solo. Heißt: Er fliegt alleine eine weite Strecke mit dem Flugzeug über Land. Außerdem hat er als erster von uns nun eine eigene „credit history“ aufgebaut, so dass er eine amerikanische Kreditkarte bekommen kann. Ab jetzt müssen wir größere Anschaffungen wie z. B. Autos, nicht mehr bar bezahlen wie bisher.

Marc erzählt:
Cross-Country-Solo: Ich bin mit meiner Flugausbildung mittlerweile ziemlich weit und das einzige, was jetzt noch fehlt, sind die Solo-Langstreckenflüge. Da das Wetter nachhaltig schlecht in Morristown war, sind Manni (mein Fluglehrer) und ich drei Stunden im Instrumentenflug (Jargon: IMC – Instrument Meteorological Conditions – sprich: durch die Wolken) von Morristown nach Erie in Pennsylvania geflogen. Erie liegt direkt am Lake Erie und hatte gutes Wetter. Dort habe ich entlang der Küste meine drei Stunden Solo-Flug absolviert (Super-Gefühl!), um danach im Dunkeln wieder drei Stunden im Nachtflug nach Morristown zu fliegen. Wir kamen gegen 23 Uhr an, und im Landeanflug hat Manni mir nach zehn Stunden im Cockpit dann eine simulierte Notlandung reingedrückt. Ich habe geflucht, aber die Maschine im Dunkeln heil auf den Boden bekommen. Manni war zufrieden, ich war fertig, aber happy und ich werde den Spruch nie vergessen: „Disaster will strike when you are most tired and least expect it – be prepared“.

 

Was mich angeht, so unterrichte ich wieder an der Deutschen Schule, sammle fleißig Geld für mein Fundraising-Projekt und laufe meinem Geburtstag Schritt für Schritt entgegen.

Wetterkapriolen

Wir lecken uns noch die Wunden von hurricane Irene, da kommt schon der nächste Regensturm: Dauerregen, überflutete Straßen, fünf „flood warnings“ auf meinem Handy – und Marc ist wieder mal nicht da. Das heißt: Stress für mich, weil ich erneut Angst habe, dass die schiefen und krummen Bäume bei uns im Garten sich in der feuchten Erde nicht halten können. Ich erwische mich bei dem perfiden Gedanken, dass es besser sein könnte, die Kids nachts im ganzen Haus zu verteilen (alle auf einmal kann es nicht treffen), aber entscheide mich dann doch dafür, sie alle schlafend in den Raum zu schleppen, der am weitesten von gefährdeten Bäumen weg ist (der sicherste Raum im Keller ist noch Baustelle, mit fünf gigantischen Luftpustern wird da gerade die Feuchtigkeit von Irene rausgepustet.)

 

Unsere Nachbarsfamilie, der einige dieser „Wackelkandidaten“ gehören, die sich bedenklich über unseren Garten neigen, ist nicht bereit, die Bäume zu stutzen.

Beim Thema „Sicherheitsempfinden der Amerikaner/innen“ komme ich nicht mit: Sie haben Angst, ihren Kids Scheren in die Hand zu geben, verbieten offene Schuhe und Glasflaschen, aber sie schlafen mit ihren Kindern in kleinen Hexenhäuschen aus Holz, umgeben von schiefen Baumriesen, die einfach umfallen können. Das verstehe ich nicht!

Spielverderber

Zu diesem Wetterstress kommt für mich unerwartet eine völlig neue Komponente dazu: Einige Freunde fragten uns: „So, noch ein Jahr und dann seid ihr schon weg? Ist das jetzt sicher?“ Super unangenehme Frage, man kann es sich nicht schönreden, denn es stimmt ja, und ich fühle mich ein bisschen wie eine Verräterin. Unser Abreisedatum steht auch schon fest: der 13. Juli 2012 – das ist irgendwie ein Spielverderber im Moment. Aber ich will jetzt noch nicht dran denken und dieses Jahr noch hundertprozentig hier verbringen – soweit der Plan.

 

Alles Gute
 PS: Hier geht’s weiter zum nächsten Monatsbrief. Viel Spaß beim Lesen!