„Komm, wir geh’n zu Kanada“ (Paul, 4 Jahre)
Im November 2011 gibt es zwei Tage schulfrei – in der Woche nach dem Marathon. Und ziemlich spontan fahren wir Richtung Kanada – mit dem Endziel Niagarafälle, denn die liegen direkt an der Grenze zu den USA. Ich packe in Rekordzeit – gerade mal eine Stunde für fünf Leute, da bin ich jetzt echt stolz drauf! Vitoria, unser Au-pair, darf leider nicht mit, denn sie hat kein Visum für Kanada.
Premiere
Unser erster Roadtrip: Unendlich viel Autofahren und jede Nacht in einem anderen Zimmer schlafen.
Unsere Route
New Jersey, Pennsylvania und dann „Upstate New York“ – also durch den Staat, der nicht zu verwechseln ist mit „New York City“ – dann Ontario in Kanada. Die 650-Kilometer-Fahrt ist dabei – mit vier Kindern! – die größte Herausforderung.
Wann sind wir da?
Ole (6) fragt schon nach fünf Minuten: „Wann sind wir endlich da?“ Also testen wir den Fernseher im Toyota und damit läuft es super! Endlich eine entspannte Fernreise mit zufriedenen Kindern – für einen Moment. Dann wird Ole leider speiübel, fünf Minuten später sind Auto und Kind komplett voll… Na Klasse, umziehen bei Minusgraden und eiskaltem Schneeregen auf dem Feld – danach nur noch Gejammer von allen Kids. Nase zuhalten und Nerven behalten!
Die Überraschungen
Mitten im Nichts entdecke ich in „Upstate New York“ einen Aldi. Unser sonstiger Eindruck von NY beim Durchfahren: Wahnsinn, wie viel Platz die hier haben – jede Menge Wälder, breite Flussbecken und Sümpfe. Aber alles wirkt ein bisschen verlassen und farblos. Viel Gegend mit vielen Eisenbahnen, die ewig lang sind und auf denen zwei Container übereinander stehen. Viel mehr dicke Leute als in NJ. Selbst tanken. Marc fragt sich, wovon die Leute hier leben …
Abstrus
Je weiter wir nach Norden kommen, desto unwirtlicher und kälter wird es. Von Indian Summer ist hier nichts mehr zu spüren – alles kahl und schon richtig kalt. Mitten im Nichts liegt ein Kasino. Und dann kommt – auch in the middle of nowhere – unsere erste Station, die „Great Wolf Lodge“ (https://www.greatwolf.com/poconos).
Mini-Disneyland und Centerpark mit Rummelplatzatmosphäre
Mitten in den „Pocono Montains“ taucht es auf – das große Anwesen mit rustikalem Riesenhotel in der Mitte. Dazu jede Menge kinderreicher Familien, die Kurzurlaub im Wasserparkhotel machen (ja, ihr habt recht, es hört sich schon vorher nach Stress an – wir haben uns wohl nicht richtig schlau gemacht). In der Eingangshalle: ein gigantischer, drei Meter hoher Kamin mit echtem (!) Feuer, davor schwere Ledergarnituren, der Starbucks daneben darf nicht fehlen, überall Leute.
Pyjamahotel
Wir kommen gerade recht, denn es ist „Pajama Story Time“, wie uns ein Schild erklärt: Jede Menge kleiner Kinder in bunten Pajamas und Pantoffeln sitzen im Foyer und gucken sich gerade ein Musical aus der Retorte an. Pocahontas, ein singender Elch, eine zwinkernde Eule und ein sprechender Baum nicken und wackeln hoch und runter, hin und her und „singen“ dabei in ohrenbetäubender Lautstärke.
Hexen und Zauberer
Auf dem Weg zu unserem Hotelzimmer geht die akustische Berieselung weiter: Hexenstimmen aus dem Off, Regenwald-Sound und leises Gezischel. Wisst ihr, wie sich „fairy dust“ (Feenstaub) anhört? Oder könnt ihr einen „magical spell“ (Zaubertrick) am Geräusch erkennen? Wir holen in Kürze nach, was wir bisher bei Disneyfilmen verpasst haben. Jede Etage ist ein Themenpark mit passender Geräuschkulisse: Vom „Burgverlies“ durch die „Vergessene Halle“ und den „Flüsternden Wald“ zum „Verzauberten Wald“.
Überall rennen Kinder mit Zauberstäben durch die Flure, mit denen sie Zaubertruhen öffnen und große Gemälde lebendig machen können. Alle sind auf „magic quest“ und unsere Jungs sind nicht mehr zu halten. Kostenpunkt: 17 Dollar pro „magic wand“ (Zauberstab) – es gibt kein Entrinnen. Und meine Tasche mit Spielesammlung, Puzzle und Malstiften hätte ich getrost im Auto lassen können …
Kindertraumbüffet
Unseren Kindern steht fast die gesamte Zeit der Mund offen. Es ist fast schade, denn beim Büffet werden Kinderträume wahr:
Aber die Jungs sind zu sehr mit Staunen beschäftigt und von TVs und Musik abgelenkt, als dass sie sich aufs Essen konzentrieren könnten. Wie abgehärtet da doch die heimischen Kids sind, die das alles an sich abperlen lassen und das Essen nur so in sich hinein schaufeln. Mich nervt das Schummerlicht im Restaurant – wieso essen die Amis immer im Halbdunkeln?
Schwimmspaßbad
Ich kenne mich nicht mit Spaßbädern aus, aber das Schwimmbad hier ist definitiv GROSS. Viele Becken, überall Hebel, diverse Riesenrutschen, angewärmte Handtücher, so viele man will, unglaublich laut – sowohl die Leute als auch das Wasser.
Nach einem Tag im Superwasserpark sind wir alle platt. Marc und ich steigen mit Ohrensausen ins Auto (wir sind quasi schwerhörig), und wir sind froh, dass wir die „pneumatisch gesteuerte Indianerbraut“ (Marc) samt ihren unechten Freunden und kleinen Fans hinter uns lassen.
17.000 Badewannen pro Sekunde
Weiterfahrt durch die Berge im Dunkeln bei Regen – super unangenehm, denn es scheint hier jede Menge irre Truckfahrer/innen zu geben, die schneller als jeder PKW fahren und einen mit 70 Meilen pro Stunde (ca. 130 km/Stunde) ohne Rücksicht auf Verluste überholen. Aber wir kommen zum Glück heil im nächsten Hotel an.
Am nächsten Tag überqueren wir die Grenze nach Kanada. Vom ziemlich grauen und ziemlich amerikanischen Buffalo geht’s rüber nach Niagara (sprich [ˌnaɪˈægra]) – und das fühlt sich direkt europäisch an: Keine Meilen mehr, sondern Kilometer, beim Starbucks gibt’s die Anzeigen auf Englisch und Französisch (und nicht auf Spanisch!), „partly skimmed milk“ ist hier auch „lait partiellement écrémé“. Es rauchen viel mehr Leute auf offener Straße und es gibt jede Menge Bürgersteige. Und außerdem herrscht schon überall Weihnachtstimmung: gigantische Weihnachtsbäume in der Hotellobby, überall künstliches Grün, Weihnachtssongs. Kein Wunder, die Kanadier/innen feiern ihr Thanksgiving schon Anfang Oktober.
Das Städtchen Niagara haut uns nicht gerade um: ziemlich hässlicher Touri-Ort, grelle Leuchtreklamen, viel zu voller Rummelplatz, Massen von japanischen und russischen Leuten. Ich kann echt nicht verstehen, wieso hier viele zu ihrem „Honeymoon“ herfahren – oder ist das nur eine Legende?
Die Highlights:
- Zimmer in 28. Etage mit spektakulärem Blick auf die Wasserfälle.
- Besuch bei den Wasserfällen: Tims (7) spontaner Ausruf: „Boah, that is ginormous“ (Wortkreation aus „gigantisch“ und „enormous“) – pro Minute fließt da Wasser von einer Million Badewannen runter – das sind pro Sekunde 17.000 Badewannen! 1960 hat ein 7-jähriger Junge seinen unfreiwilligen Sturz tatsächlich überlebt (viele andere sind gestorben). Das Rauschen des Wasser ist so laut, dass wir uns anschreien müssen.
- Endlich ein Indoor-Pool im Hotel: Das erste Mal seit April sind wir mit der ganzen Familie im Wasser, großes Geplantsche, Paul „säuft“ fast ab, ohne dass wir es sofort merken (er steht mucksmäuschenstill mit dem Kopf unter Wasser, große Augen, nur ein Haarbüschel guckt noch oben heraus – Schreck lass nach!).
- Mein Drink am letzten Abend: „Chocolate Ment S’more“: Vodka mit Creme de Cacao, frischer Minze und Sahne und zwei Marshmallows drin. War lecker, auch wenn Marc sich geschüttelt hat.
- Rückweg: Ole verliert seinen allerersten Wackelzahn kurz vor der Grenze – ein waschechter „Kanadazahn“ also.
- Einreise in die USA mit neuem Gefühl: Wir dürfen uns an einer amerikanischen Grenze mit Amerikaner/innen in eine gemeinsame Reihe eingliedern – kein Foto, kein Fingerabdrücke erforderlich wie sonst, nur alle Scheiben runterkurbeln. Alle Kids werden gefragt: „How old are you?“ – Sie antworten artig: „Nine“, „six“, „seven“, „four“. Dann: „Are you playing hockey?“ Nein, ist aber egal, wir dürfen weiterfahren und sind nach sechs Stunden wieder in Morristown.
Die squirrels haben in der Zwischenzeit Chaos vor unserer Haustüre angerichtet: Die rausgestellten pumpkins sind bis auf die Schale ausgehöhlt, die Maiskolben komplett abgenagt. Von den Maiskörnern haben sie aber nur das Innere gegessen, die Reste überall verteilt liegen gelassen – das sind tatsächlich Feinschmecker.