Aus meiner Sicht werden auch die Kinder hier sehr früh darüber aufgeklärt (im Prinzip ja gut) und darauf „gedrillt“, sich bei „Benachteiligungen“ sofort bei offiziellen Stellen zu beschweren, ohne zunächst mal eine Lösung im Kleinen zu probieren. Als Theo in der letzten Woche von einem Jungen in der Schule ein paar Bemerkungen einstecken musste, wollte er sofort eine „bully note“ schreiben. So eine „bully Note“ (Mitteilung übers Mobben) geht ohne Umweg ganz bis nach oben zur Direktorin, die dann die „Übeltäterin“ oder den „Übeltäter“ vorlädt und zur Rede stellt. Ich konnte Theo gerade noch davon abhalten, diese Mitteilung zu schreiben, und wir haben die Sache ganz in Ruhe mit dem Jungen und seiner Mutter geklärt. Der „offizielle“ Klärungsweg hätte so unglaublich viel mehr Wirbel verursacht und vielleicht sogar einen Kollateralschaden angerichtet. Der Hintergrund dieser „zero tolerance“ policy gegenüber dem Mobben ist sicherlich auch der Freitod einiger minderjähriger Schüler/innen in den letzten Monaten in den USA, die massiven Schikanen durch Mitschüler/innen ausgesetzt waren. Das Thema „Mobbing an Schulen“ und effektive Gegenstrategien sind aber sicherlich ein eigenes Kapitel. In Deutschland habe ich an meiner Schule bisher die gegenteilige Erfahrung gemacht: Da spielt das Thema überhaupt keine Rolle, und die Anregung einiger engagierter Lehrerinnen und Lehrer, doch ein Schülerschlichtungsprogramm aufzubauen, wurde jahrelang von einer mächtigen Lehrerfraktion immer wieder mit dem Argument abgelehnt, dass wir dann ja offiziell zugeben würden, dass es an unsere Schule Probleme unter den Schulkindern gäbe. Das macht mich auch zornig und mir stehen auch die Haare zu Berge! Was lernen wir von diesen Vorfällen? Vorsicht mit flapsigen Bemerkungen – das gilt sowohl für unsere Kinder (die ja auch sonst auf einmal bei den Schulleiter/innen vorgeladen werden könnten), als auch für uns in Beruf (auch für mich als Lehrerin) und Privatleben. Hier gelten einfach andere Regeln als in Europa.
Und schon wieder: Anstellen
Tim fühlt sich ebenfalls in seiner neuen Klasse richtig wohl. Seine Hilfslehrerin, Mrs. Abato, schwärmte mir vor: „Oh, he is so cute. I love his accent.“ Na dann! Für ihn stellt das Lesen zurzeit eine große Herausforderung dar, denn die Vokale im Englischen werden einfach je nach Wort verschieden ausgesprochen – viel komplizierter als im Deutschen. Das Konzept im 1. Schuljahr ist hier komplett anders als bei uns an der deutschen Schule, denn die Kinder sind ja auf ganz verschiedenen Niveaus. Viele können schon lange lesen (letzte Woche hat ein Kind aus Pauls Klasse zu seinem vierten! Geburtstag flüssig vorgelesen – ich war platt!). Aber das kindergarten-Jahr ist nicht verpflichtend in New Jersey, von daher gibt es eben auch einige (wenige) Kinder, für die Buchstaben und Zahlen noch Neuland sind und auch Tim fängt ja gerade erst damit an. Aber Tim ist guter Dinge, genau wie wir, denn die übrigen Bereiche fallen ihm leicht und er geht gerne mit seinem neuen Delfinrucksack zur Schule. Er lernt im Moment so richtig amerikanische Gedichte. Hier ist eins, das von der Anstell-Etikette handelt – richtiges Anstellen will gelernt sein (Tipp: am besten laut lesen, mit breitem amerikanischen Akzent, dann reimt es sich sogar): Lining up I will not shove, (Ich werde nicht drängeln,) I will not push, (Ich werde nicht schubsen,) I will not try to pass, (Ich werde nicht versuchen zu überholen,) I will not lag behind the rest, (Ich werde nicht zurückfallen,) I’ll line up with my class. (Ich werde mich mit der Klasse aufstellen.)
Culture clash
Verboten! Verboten! Verboten! Schon fast ein alter Hut, die allgegenwärtigen Gebote und Verbote – aber immer wieder erwischen sie mich auf dem falschen Fuß. Als ich Theo das erste Mal von seiner neuen Schule abhole, bleibe ich zuerst mal stehen und lese mir alle Verbotsschilder durch. Ich bin unsicher, ob ich vielleicht nicht doch unautorisiert bin und dann gleich abgeführt werde. Mein persönlicher Favorit: No horseback riding. Das muss wohl historische Gründe haben, oder? Ein ähnliches Schild steht hier übrigens auch bei einer Auffahrt auf den Highway mitten in Morristown: No pedestrians, no bicycles, no horses.
Bitte ans Pferd schnallen
Besuch im Zoo: ein klassisches Karussell mit Tieren, die sich auf- und abbewegen (auf Englisch sehr anschaulich merry-go-around genannt). Ich setze Ole und Paul gerade auf zwei Tiere, als ich von der Seite böse aufgefordert werde, die Kids doch bitteschön anzuschnallen! Ich bin perplex, die Frau redet weiter auf mich ein, bis ich sehe, dass es tatsächlich Anschnallgurte an den Tieren gibt. Artig schnalle ich Ole an, für Paul bleibt keine Zeit. Das Beste ist ein Vater, der auf einem Tier sitzt und sich ebenfalls angeschnallt hat – ich bin platt! Paul hat die ganze Geschichte ohne mich und ohne Anschnallen überstanden.
“Everybody freeze“
Beim preschool-Elternabend (Back-to-school night) erklären sie uns ganz genau, was passiert, wenn ein Kind in die Hose gemacht hat: Das Kind wird ins Badezimmer geschickt, dann wird eine weitere Lehrperson dazugeholt, die gemeinsam mit der ersten beim Wechseln der Kleidung dabei ist. Klingt ziemlich kompliziert – ich habe zufällig bei Ole in der Gruppe eine solche Situation erlebt – eine ganze Kindergartengruppe in Aufruhr wegen einer Pipipfütze: „Everybody freeze“ (lauter Ruf der Hauptlehrerin), alle Kinder gucken auf, fragende Gesichter, dann war der Übeltäter (hochroter Kopf) schnell identifiziert, tuscheln, dann eine EWIGKEIT warten, bis eine dritte Lehrkraft gefunden war – zwei gingen dann mit Kind auf die Toilette, die dritte „bewachte“ den Rest der Kids. Ich wollte den armen kleinen Kerl instinktiv einfach in den Arm nehmen und ihm sagen, dass alles o. k. ist. Wäre vielleicht für ihn doch wichtiger gewesen als die zweite Lehrkraft zur Kontrolle der ersten Lehrkraft. Ich habe manchmal den Eindruck, dass ganz kleine Dinge hier ziemlich verkompliziert werden. In meinen europäischen/deutschen Augen führen diese extremen Maßnahmen (sie wollen das Kind natürlich schützen, und auch sich selbst vor Missbrauchsklagen bewahren) zu absurden Situationen, in denen manchmal die Spontaneität und Menschlichkeit verlorengehen. Auf der anderen Seite ist es natürlich richtig und wichtig, die Gelegenheiten für Missbrauch so gering wie möglich zu halten. Jedenfalls ist die Umsetzung, die sie hier haben, nicht so überzeugend und wirkt aufgesetzt. Aber wie dann? Schwierige Sache. Ich dachte bisher immer, dass ich schon recht gründlich bin in allem, was ich so tue (und das wirft mir Marc manchmal vor), aber ich bin hocherfreut zu sehen, dass da noch viel mehr drin ist (et voilà, Marc!).
1. Pluspunkt: die große Freiheit – ein unschätzbarer Luxus für uns alle
Das Leben mit vier Kindern ist in Deutschland deutlich unkomplizierter für uns. Wir können zu Fuß von zu Hause starten, denn vieles liegt in erreichbarer Nähe (Städtchen, Spielplätze, Zoo, Kindergarten) und es gibt einfach überall Bürgersteige, wo man Kinderwagen, Roller, Bobby-Car oder Fahrrad fahren kann (ohne in Lebensgefahr zu sein). Für mich als Bewegungsmensch macht das einfach einen Riesenunterschied. Die Kinder dürfen auch mal vorweg laufen oder fahren (keine „Leinenpflicht“), sich einfach mal eben für ein „Picknick-Pipi“ in die Büsche schlagen (ohne ein öffentliches Ärgernis zu sein) und im Spielplatz nach Herzenslust im Sand spielen (anstatt mit stinkigem Rindenmulch). Mit nackten Füßen durch Sand zu laufen ist eben auch ein bisschen Urlaub – die Leute in New Jersey wissen gar nicht, was sie ihren Kindern vorenthalten. Theo (8) darf zu seiner alten Schule, macht auch direkt den Ausflug mit, ohne dass wir irgendetwas unterschrieben hätten (in den USA undenkbar). Ole (5) und Paul (3) gehen öfter in den Kindergarten, einfach so. Wer denkt, dass Deutschland Spitzenreiter in Bürokratie ist, sollte einmal mit seinen Kindern in die USA bzw. nach New Jersey ziehen … Die Kinder genießen das selbstständige Leben, wie zum Beispiel einfach mal eben mit dem Fahrrad um den Block zu Uroma zu fahren. Theo und Tim (6) können auch mal eine Stunde alleine zu Hause bleiben oder eben kurz fünf Minuten im Auto sitzenbleiben, wenn Mama etwas in der gegenüberliegenden Bäckerei einkauft. Alles in New Jersey nicht möglich – bis zum 12. Lebensjahr der Kinder muss man praktisch immer in Reichweite sein (und das ist wörtlich zu nehmen – so lernen es auch die Au-pairs). Diese Freiheit ist ein ganz klares Plus hier in Deutschland, denn es tut den Kindern und ihrer Entwicklung gut. Deutsche Kinder lernen viel früher, für sich selber Verantwortung zu übernehmen und können sich auf diese Weise unabhängiger entfalten. Wer will schon bis zwölf Jahren am Rockzipfel von Mama und Papa hängen? Dies ist einer der Gründe, warum wir nicht für immer in den USA bleiben werden – ich wünsche uns selbstständige Kinder mit common sense.
2. Pluspunkt: Wir sollten uns schämen … oder doch nicht?
Ich hatte ganz vergessen, wie unkompliziert die Deutschen mit Nacktheit umgehen. In den Ferien gehe ich mit Paul und Ole einfach in die Mädchenumkleidekabeine des Schwimmbades – kein vergebliches Suchen nach einer geeigneten Familienumkleidekabine wie im YMCA in Madison. Und niemand beschwert sich. Wie sehr ich mich schon an die amerikanischen Standards gewöhnt hatte, zeigte mir ein Freund von Tim, der bei uns übernachtete: Tim und er standen auf einmal unvermittelt im Schlafanzug im Elternbad, plauderten mit mir über etwas, das sie gerade sehr beschäftigte, ohne überhaupt wahrzunehmen, dass ich gerade unter der Dusche stand. Das wäre in New Jersey vollkommen unmöglich. Dort sehen die meisten Kids ihre Eltern schon von klein an nicht mehr nackt – es gibt wohl eine Empfehlung, dass man sich ab dem zweiten Lebensjahr dem Kind nicht mehr nackt zeigt! Warum nur? Also, wir Deutschen sind in Punkto Nacktheit deutlich weniger „schamhaft“ als die Amerikaner/innen. Man fühlt sich direkt normaler und sich seines Körpers auf natürliche Weise bewusst, wenn man sich nicht überall „verstecken“ muss. Das wünsche ich mir auch für unsere Kinder.
3. Pluspunkt: Waschmaschine, Staubsauger und Co. – für mich nur noch „made in Germany“
In den letzten sechs Monaten habe ich am eigenen Leib erfahren, dass einige Haushaltsmaschinen in Amerika super unpraktisch sind und ihren Job einfach schlecht bis gar nicht erfüllen. So stehe ich persönlich mit unserer Waschmaschine in New Jersey auf Kriegsfuß und sie hat mich schon einige Tränen gekostet. Kurze Beschreibung des Monstrums: Toploader (Wäsche kommt von oben rein), sie hat dreimal so viel Innenraum wie die deutschen Waschmaschinen, in der Mitte ragt die „Waschschraube“ nach oben. Wäsche rein, Waschmittel auf die Wäsche drauf, Deckel zu, anstellen, Programm wählen. Das längste Programm bei unserer Maschine ist „Ultra clean“ und dauert gerade 16 Minuten (ja, sechzehn!). Temperaturwahl: cold – warm – hot (wobei „hot“ – lauwarm ist). Das Schleuderprogramm ist ein Witz und ein Fusselsieb gibt es auch nicht. Das Ergebnis: immer noch dreckige, klatschnasse, verknotete und verfusselte Wäschemassen. Marc war zunächst wenig hilfreich: „Wie machen das denn die amerikanischen Frauen?“ – Ja, das wüsste ich auch gerne. Das Thema „Waschmaschine“ ist immer ein sehr ergiebiges Thema unter Expat-Frauen, während es in unserer Familie zum Dauerreizthema geworden ist. Und jetzt bin ich’s einfach satt, mit dieser Maschine Wäsche für sechs Leute zu waschen. Ich kehre erst wieder in die USA zurück, wenn Marc das Ungetüm durch eine anständige Waschmaschine ersetzt hat. Unser amerikanischer Staubsauger ist nicht viel besser – ebenfalls eine Monstermaschine. Sauger, Motor und Beutel – alles in einer Box, die man bei jeder Bewegung komplett mitschleppen muss. Man kommt in keine Ecke und hat nachher einen Tennisarm. Völliger Schwachsinn – wer konstruiert so etwas? Und wieso machen so viele Amerikaner/innen das dann auch noch mit und kaufen sowas? Ein deutscher Staubsauger von Siemens kostet hier das Dreifache wie in Deutschland, aber wir hatten Glück und haben gerade einen gebraucht von einer anderen Expat-Familie übernommen.
4. Pluspunkt – Kleinvieh macht auch Mist
Und dann gibt es die vielen kleinen Überraschungen in Deutschland, die ich nach einem halben Jahr schon fast vergessen hatte: mal nicht nach Schwimmbad zu riechen, wenn man aus der Dusche steigt kein Geruch von scharfen Reinigungsmitteln im Kindergarten tiptop Straßen ohne Schlaglöcher (in New Jersey bekommt man öfter einen „Rumms“ in den Bauch und fast einen Herzinfarkt, wenn man mit dem Auto in voller Fahrt durch die tiefen Schlaglöcher donnert). Die gibt´s sogar auf dem Highway. Beim Joggen oder Fahrradfahren sollte man immer einen großen Bogen um Pfützen machen – sonst kann man ganz übel stürzen. normal dimensionierte Autos, bei denen sich die Außenspiegel nicht auf der Höhe meines Kopfes befinden – sehr beruhigend! Die größte Gefahr für unsere Kinder in New Jersey besteht tatsächlich darin, die Parkplätze zu überqueren – da müssen alle „ans Händchen“.
Die spinnen, die Deutschen
Kuschelzone gegen Sicherheitsabstand und Tempo gegen Gelassenheit. Dienstleistungswüste gegen Kundenservice und Toilette gegen Puderraum. Falten gegen Knüddeln und harte gegen weiche Matratze: Die Unterschiede sind ein Kulturschock für die Amerikaner/innen. Aber für uns auch. Und dann ist da die andere deutsche Seite, die mir jetzt hier zuhause jeden Tag auffällt und die selbst für mich wieder gewöhnungsbedürftig ist. Ich muss öfter mit Mitgefühl an meine amerikanischen Leidensgenossen/innen denken, die nach Deutschland ziehen und hier so ihre Erfahrungen machen. Speed-Einkaufen in Kuschelentfernung Einkaufen in Deutschland hat bestimmt schon so einige Amerikaner/innen traumatisiert: viel zu eng, zu wenig Auswahl, zu schnell, effektiv, keine Anstellmoral, unhöfliche Kassierer/innen. Und dann muss man auch noch SELBST alles in KOSTENPFLICHTIGE Tüten einpacken … Da gab es bestimmt schon etliche „Notrufe“ von gefrusteten Amerikanerinnen beim arbeitenden Ehemann (oder umgekehrt). Es gibt außerdem einen klaren Unterschied beim persönlichen Wohlfühl-Abstand. Wir Deutsche können Leute näher an uns vorbeilassen, ohne direkt gestresst zu sein – jedenfalls, wenn wir uns aneinander vorbeibewegen, wie z. B. beim Einkaufen. In New Jersey ignoriert man schon die „persönliche Sicherheitszone“, wenn man den Abstand von einer Armlänge unterschreitet (unter 60 cm). Das geht nicht ohne ein „excuse me“ (als Vorwarnung) oder ein „sorry“ (danach). Alles andere gilt in den USA als unhöflich und wirkt aggressiv – überall im öffentlichen Leben.