Nach meiner Aufräumreise nach Deutschland diesen Monat bin ich unruhiger als vorher, wenn ich an Ole denke. Mit dem Abstand, den wir mittlerweile von Deutschland haben, muss ich sagen, dass wir Deutschen „entwöhnt“ sind von Menschen mit Handicap. Mein Alltagsleben in Deutschland und hier bewegt sich in ziemlich ähnlichen Lebensbereichen (Einkaufen, Spielplätze, Schule, Kindergarten, Sportgruppen, Sport, Museen und Zoos), und in Deutschland sehe ich definitiv viel, viel weniger Leute mit Einschränkungen als hier. Wo sind diese Menschen alle in Deutschland??? In „Spezialeinrichtungen“? In den Förderschulen?
Sprachliche Fallstricke
Nun ein Wort zur Bezeichnung: Das Wort „behindert“ kommt mir nicht über die Lippen, weil man es als Schimpfwort im Alltag öfter hört – geht mal in die Schulen! Ähnlich schlimm finde ich die Kategorisierung „Behinderte“, weil es Menschen auf ein einziges Merkmal, nämlich ihr Handicap reduziert, das alle anderen Eigenschaften dominiert. Das ist ein Label, welches klar aus der Perspektive der „Nicht-Behinderten“ stammt und meiner Ansicht nach „Schubladendenken“ Vorschub leistet. Ich finde dagegen den beschreibenden, nicht kategorisierenden Begriff „Menschen mit Handicap/ Einschränkungen/ Behinderungen“ treffend und nicht stigmatisierend.
Die Benennung von Menschen mit Behinderung ist auch in den USA ein Thema. „Special needs“ ist hier gang und gäbe, aber einige Betroffene wehren sich dagegen, weil sie das als herablassend empfinden. Sie bevorzugen die Wörter “disability” (Behinderung) oder “impairment” (Beeinträchtigung). Manche gehen aber auch in die andere Richtung und sagen statt “disability”, dann z. B. „learning difference“ (Lernunterschied) oder „mentally/physically challenged.“ (wörtlich: mit geistiger/körperlicher Herausforderung).
Ein komplexes, abendfüllendes Thema – manche halten das für unwichtige „Wortspielereien“, aber ich finde, dass die Sprache einen großen Einfluss darauf hat, wie wir die anderen Menschen wahrnehmen bzw. wie bestehende, diskriminierende Denkweisen mit bestimmten Wörtern weiter gefestigt werden. Aber mal abwarten, wie Ole das einmal sehen und welche Variante er bevorzugen wird.
So wie ich die Dinge im Moment für uns sehe
Was man vor allem für Kinder mit Behinderung braucht und welche kleinen Misserfolge von Ole dennoch „heartbreaking“ für mich sind. Warum wir aber zuversichtlich sind, nicht aufgeben und hoffen, dass für Ole alles gut wird.
Das Leben mit Kindern mit Handicap unterscheidet sich nicht grundsätzlich vom Leben mit typisch entwickelten Kindern – so jedenfalls meine These. Allerdings braucht man eine große Portion „Fachwissen“ über das Handicap und damit verknüpft auch handfeste „Verhaltensregeln“ für den Alltag (z. B. will man ja nicht „aus Versehen“ oder aus Unwissenheit die Verhaltensweisen verstärken, die „sozial unerwünscht“ sind). Was aber die restlichen „Zutaten des Großbekommens“ angeht, so sind es dieselben wie bei neurotypischen Kindern – auch, wenn es von vielem gern ein bisschen mehr sein darf.
Man braucht vor allem:
- unendlich mehr Geduld – bis der Knopf zu ist und der Anschnallgurt fest sitzt
- ziemlich viel mehr Kraft – manchmal ist Ole wie ein rohes Ei und springt wie ein Flummi durch den Raum – und ich muss hinter ihm herlaufen, ihn immer wieder auffangen, das Ganze blitzschnell und wehe ich passe eine Sekunde nicht auf – meltdown, Streit mit den anderen – da bin ich oft morgens um sieben Uhr schon fix und fertig
- mehr Geld – für Therapien, die die Kasse nicht zahlt oder für die Übersetzungen der Gutachten, die uns allein letzten Monat über 2.500 Dollar gekostet haben
- mehr Initiative und Durchsetzungsvermögen – wenn Ärzte und Ärtzinnen die Sache anders sehen: Unser Kinderarzt in Deutschland weigerte sich, Ole als 2-Jährigem eine Sprachtherapie zu verschreiben: „Jetzt hören Sie auf. Mit dem Kind ist alles in Ordnung. Ich mache mir mehr Sorgen um Sie!“ Erst als wir auf eigene Kosten mit der Therapie angefangen haben, gab es im Nachhinein eine Verschreibung.
- ein dickes Fell und guten Humor – wenn die Kassiererin im Supermarkt sich über Oles Verhalten mokiert und mir vor versammelter Kundschaft einen Vortrag hält: „Also, wenn das mein Kind wäre, dann …“ Oder wenn die Mitmenschen wieder mal alles besser wissen und z. B. „einfach nicht glauben, dass es ›das‹ (z. B. ADHS) wirklich gibt“ und einem dann ein fehlendes Erziehungskonzept unterstellen. Oder wenn Kindergärtnerinnen und Erzieherinnen einen als „anstrengende und nervige Eltern“ empfinden, die wieder eine Extrawurst für ihr Kind wollen.
- größere Bereitschaft, sich selber schlau zu machen und dieses Wissen im Sinne von Oles bestmöglicher Entwicklung umzusetzen – z. B. um Förderziele bestimmen und Therapien koordinieren zu können oder auch um Oles Rechte durchzusetzen – das macht niemand für uns.
- mehr Platz im Regal – Oles „Akte“ ist dicker als meine
- und dann eine starke Vision für die Zukunft, großes Durchhaltevermögen und eine ganze Portion mehr Zuversicht, dass am Ende alles gut wird.
Und „Alles gut“ heißt, dass Ole sich weiterentwickelt, noch einiges aufholt, gut durch die Schule kommt und dann mit seinen Einschränkungen in einem stabilen sozialen Umfeld und einem Job, der ihm Spaß macht, selbstbestimmt und selbstständig leben kann. Wir wünschen ihm ganz einfach ein glückliches und zufriedenes Leben mit Menschen, die ihn so nehmen, wie er ist und in einer Gesellschaft, die Teilhabe für alle Menschen ermöglicht, ohne dass er sein Leben lang dafür kämpfen muss.
Und dann brauche ich noch unendliche Energie, um „Misserfolge“ von Ole zu verkraften. Es ist einfach „heartbreaking“ für mich,
- ihn wie ein kleines Häuflein Elend mit verweintem Gesicht zu sehen, wenn ich ihn in der preschool abholen muss
- wenn er nicht weiß, was er – wieder mal – falsch gemacht hat
- wenn er frustriert und traurig ist, weil er aneckt, abgelehnt wird und sich selbst auch nicht erklären kann
- mit ihm an der Hand im Gang der preschool zu stehen und mir anhören zu müssen, was er diesmal wieder gemacht hat – danach bin ich fix und fertig, das haut mich um, und manchmal hilft nur noch, die Bettdecke über den Kopf zu ziehen
Aber dann muss man sich selbst immer wieder am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen, aufstehen und das Kind aufbauen und ihm Zuversicht geben.
Natürlich werden wir immer – wie alle Eltern – hinter Ole stehen und ihn unterstützen. Der Tipp der „parent support group“ in diesem Bereich:
„Be cordial and persistent“ –
Sei aufrichtig und beharrlich.
Und:
„Don´t take a „no“ for an answer“ –
d. h. auch gegen Widerstände weitermachen und nicht aufgeben.
Packen wir’s!