Puzzle steht für Autismus

Special Needs

Warum Oles besonders großes Interesse für Loks auch mit seiner Autismus-Spektrum-Störung zu tun hat und wie Menschen mit Handicap in Amerika sichtbar mehr Teilhabe am Alltag haben. Auf welche Weise Eltern hier gut Hilfe und Unterstützung bekommen, aber wie schwer es trotz allem oft ist, die Diagnose zu verdauen und dann den Alltag zu meistern.

Ole (6) hat im Februar 2012 eine neue Diagnose bekommen: „Autismus-Spektrum-Störung“ (autism spectrum disorder) – auf Deutsch kurz „ASS“ genannt. Das Ergebnis kam für uns überraschend, aber es fiel natürlich nicht aus heiterem Himmel. Seit vier Jahren sind wir mit Ole immer wieder unterwegs bei Ärztinnen und Ärzten und suchen nach Antworten: Bis zum zweiten Lebensjahr hat er nicht gesprochen, mit vier Jahren hatte er große Probleme mit seiner Grob- und Feinmotorik, auffallend war sein aufbrausendes, oft hyperaktives Verhalten, sein extrem großes Interesse an Loks, Loks, Loks. Dann kam die vorläufige Diagnose „Verdacht auf ADHS“, mit sechs Jahren war er immer noch sehr impulsiv, im sozialen Bereich tat er sich sehr schwer und oft zeigte er unberechenbare Reaktionen. Dennoch: Mit einer Autismus-Diagnose haben wir nicht gerechnet – das lag aber wohl hauptsächlich an unserer falschen Vorstellung von Autismus.

 

Was ist eine Autismus-Spektrum-Störung?
Hier ein einfacher, gut verständlicher Text und Buchtipps zum Thema: Autismus – Eine besondere Art und Weise zu leben

Es trifft einen sehr tief, das eigene Kind auf diese Weise ‚versehrt’ zu sehen (was mich angeht). Marc scheint dagegen völlig unbeeindruckt zu sein (jedenfalls äußerlich).

Aber Zeit, um Wunden zu lecken, hat man nicht – man muss sich selbst schlau machen, sich kompetente Hilfe holen, einen Plan machen, was das Beste fürs Kind ist und dann loslegen. So sind wir zum Beispiel vorgegangen, um eine Schule für Ole in Deutschland zu finden, was aber alles andere als einfach war. Der Lichtblick: Wir wissen jetzt, was los ist mit unserem Sohn und können ihn gezielter unterstützen und fördern. Außerdem weiß ich von unserer Erfahrung mit der ADHS-Diagnose, dass man den „Schrecken“ einer so weitreichenden und zunächst überwältigenden Nachricht mit der Zeit verdaut und wieder „heilt“, d. h., dass es in ein paar Monaten einfach zu unserer Familie dazugehören wird und normal sein wird für uns alle. Allerdings nicht für unsere Umwelt – was eine große zusätzliche Herausforderung ist.

Die amerikanischen Bücher zum Thema „Autismus“, die ich in den letzten Wochen gelesen habe, sind übrigens bisher viel positiver geschrieben als die deutschen Bücher zum Thema „ADHS“ (meine Lektüre vor zwei Jahren): informativ, aber auch persönlich, nichts beschönigend, aber auch Mut machend, manchmal ergreifend, aber auch humorvoll – ich musste schon öfter laut lachen. 🙂

 

Special Needs in unserem Alltag

Wie Menschen mit Handicap in Amerika mehr Teilhabe am Alltagsleben haben und warum die Unaufgeregtheit im Umgang mit ASS für unseren Alltag sehr angenehm ist.

 

In Amerika gehören Menschen mit Handicap viel mehr zum Alltag als bei uns in Deutschland. Menschen mit Down-Syndrom neben mir auf der treadmill im Fitnessstudio und beim Einpacken in den Supermärkten sind selbstverständlich. Theo (9) und Tim (8) haben Kinder mit verschiedenen Beeinträchtigungen in ihren Klassen – und das sind dann u.a. bei Schulaufführungen die, die zuerst nicht auf die Bühne wollen und anschließend nicht mehr herunterzubekommen sind 🙂 . Es gibt Kinder, die beim Schulkonzert mit Ohrenschützern herumlaufen und ich habe beim Marathon in New York Läuferinnen und Läufer mit Seh- und Gehbehinderungen neben mir gehabt.

Die Leute gehen hier im Gegensatz zu Deutschland proaktiver und offener mit Einschränkungen jeder Art um – auch mit psychischen Erkrankungen. So sagte mir eine Nachbarin beim nachbarschaftlichen Plausch auf einmal: “You know, I´m bipolar“. Da musste ich anschließend erst einmal wieder googeln … Oder sie sagen dir, dass sie eine „OCD“ (sprich [əʊsiːdiː] haben (guckt mal selber nach 😉 ). Im bunten Mix der Gesellschaft hier sind diese Menschen nur eine weitere Variante, sie gehören dazu, sind mitten dabei, viele sprechen offen darüber und werden nicht ausgegrenzt (so mein Eindruck zurzeit).

Und man ist vorbereitet: Überall gibt es barrierefreie Zugänge, breite Türen, Türschilder und Bankautomaten mit Brailleschrift im Rathaus oder bei den Raumnummern im Hotel, jede Menge Behindertenparkplätze, bei allen TV-Sendungen synchrone Untertitel, bei Nachrichtensendungen Gebärdendolmetscher/innen, auf sehr vielen Spielplätzen bei den Schaukeln, den Karussells oder der Mini-Eisenbahn im Zoo Vorrichtungen für Rollstühle. Und sogar Autismus-freundliche Kinovorstellungen („autism-friendly performance“), sprich: keine Stroboskope, wenig quietschende/kreischende Geräusche, man kann aufstehen, wann man will, keine super lauten Geräusche – Lautstärke, Licht angepasst.

Nun zu uns: Ich gehe mit Oles Diagnose nicht hausieren, aber wenn die Situation es erfordert, dann kommt mir die Mitteilung „Ole is/has special needs“ hier leicht über die Lippen. Das haut niemanden um, kein Entsetzen, kein Mitleid, manchmal ein Nachfragen, manchmal die Info, dass man ebenfalls eine Person in der Familie oder im Bekanntenkreis kennt, die betroffen ist. Dieser allgemein hohe „Wissensstand“ über verschiedene Beeinträchtigungen sowie wie die „Unaufgeregtheit“ im Umgang damit hat mich am Anfang immer überrascht (vielleicht, weil wir noch so nah dran waren). Jetzt empfinde ich es als sehr angenehm, weil das Thema „gesellschaftsfähig“ ist und nicht stigmatisierend wirkt. Im Restaurant hilft es uns, ohne weitere Erklärungen an den ruhigsten Tisch zu kommen, und selbst in der Immigration bei der Einreise hat es einen super bissigen homeland security officer innerhalb von Sekunden lammfromm werden lassen. Beeindruckend, was diese Worte bewirken.

 

SNAP – Kinder helfen Kindern

Wie Kinder mit Handicaps beim Special Needs Athletic Program (SNAP) mehr Selbstvertrauen erhalten. Und wie volunteer-buddys die Sportplätze und Turnhallen zu authentischen Orten des Lebens und der Begegnung machen.

 

Und dann gibt es solche Dinge wie SNAP – darüber hatte Marc schon berichtet: Sport für special needs-kids, die von „volunteers“ (freiwilligen Kindern mit Kurzausbildung) individuell betreut werden. Ole geht gerne hin. Der große Vorteil: Er fällt dort nicht aus dem Rahmen, weil ja eben alle hier aus dem Rahmen fallen. Und es ist egal, wenn er „nicht funktioniert“. Er hat tatsächlich schon viel dort gelernt, ist geschickter mit dem Ball geworden und hat insgesamt mehr Selbstvertrauen bekommen. Aber wenn er „schlecht drauf ist“ und nicht mitmacht, stört das eben auch keinen. Finanziert wird dieses Programm übrigens komplett aus Spenden – das Sportmaterial, die Pausensnacks, die T-Shirts.

Heute steht Basketball an – im gym von Tims Grundschule (auch gleichzeitig die Aula). Geübt wird an drei Stationen: Dribbeln, Passen, Korb treffen. Zwei Highschool Kids organisieren den Ablauf: Zoe, ein „All-American Girl“ mit blondem Pferdeschwanz, Shorts und Flip-Flops teilt den teilnehmenden Kindern (vier bis zwölf Jahre alt, den meisten sieht man „nichts“ an) jeweils ein bis zwei Freiwillige zu. Tom, in blauer Trainingshose, Sweater mit dem Aufdruck „Princeton Swimming“ und Adidas-Latschen sorgt dafür, dass die Teams an die Stationen kommen. Die Mütter und Väter stehen am Rand und quatschen. Und dann geht es los:

Einige Kinder machen tatsächlich das, was gerade dran ist, d. h. sie dribbeln, passen oder werfen auf die Minikörbe. Einige Kinder laufen einfach quer durch die Halle (wie z. B. Ole oft zu Beginn), manche umarmen ihre buddys immer wieder, und einige Kinder liegen oft einfach nur am Boden, krabbeln auf allen Vieren, drehen sich, bis ihnen schwindelig wird oder werfen den Ball in irgendeine Richtung. Die Freiwilligen flitzen dann immer durch die Gegend, holen die Bälle wieder und geben sie zurück. Überall hört man: „almost“, „unlucky“, „close“, „good job“; für einen Korb gibt es „high fives“. Es ist ein ziemliches Gewusel, aber alle Kinder sind voll bei der Sache, was auch immer sie gerade machen. Die volunteers kommen ganz schön ins Schwitzen, sie feuern an und motivieren, wenn jemand keine Lust mehr hat. Mit den Wochen bilden sich zarte Beziehungen zwischen den Kindern und ihren buddys, weil sich viele regelmäßig wiedersehen.

 

Ganz selten habe ich auch schon traurige Szenen gesehen: Ein Junge (ca. zwölf Jahre alt), der schon seit Wochen mit einem gleichaltrigen Jungen richtig gut Basketball trainiert hatte, war plötzlich kaum wiederzuerkennen, versteckte sich immer wieder auf der Bühne hinter dem Vorhang – völlig untypisch. Sein buddy lief ständig hinter ihm her, versuchte ihn rauszuholen, aber an diesem Tag ging gar nichts. Die Mutter klärte auf, dass etwas an seinen Medikamenten verändert worden war. Es war schon ganz schön „herzzerreißend“ zu sehen, wie sein Mentor ziemlich verstört zurückblieb und die Welt nicht mehr verstand.

Also, wer sich einfach drauf einlässt und guckt, wie die Kinder hier miteinander agieren, kommunizieren und aufeinander zugehen, der wird nicht genug bekommen. Ich hatte jedenfalls noch nie Langeweile und Ole und ich sind immer gut gelaunt nach Hause gefahren.

Es ist ein Ort der Begegnung und des Lebens, absolut echt und authentisch – von einem Teenager vor Jahren für seinen Nachbarsjungen mit Autismus ins Leben gerufen und bis heute durch den regelmäßigen und unermüdlichen Einsatz von vielen freiwilligen Helferinnen und Helfern erfolgreich weitergeführt. Hut ab vor diesen Kids, die regelmäßig helfen!

SNAP geht inzwischen übrigens auch mit dem Programm „Special Needs Awareness and Acceptance Residency Program“ an die Schulen. Dort lernen die neurotypischen Kinder im Sportunterricht Grundsätzliches über diverse Diagnosen, wie man sich mit special needs-kids anfreunden und wie man ihnen helfen kann. Sie machen verschiedene Übungen, wie z. B. mit Taucherbrille und dicken Handschuhen etwas ausschneiden oder einen Schriftzug nachziehen, den man nur über einen Spiegel sehen kann. Danach kann man als Mentor oder Mentorin in verschiedenen Programmen mitmachen: z. B. bei der Sportstunde oder auch bei Nachhilfestunden nach der Schule oder beim „In House-Buddy Programm“, bei dem jeweils zwei Kinder mit einem Kind mit Handicap zuhause spielen.

Ich glaube nicht, dass wir etwas Vergleichbares schon in unserer Stadt in Deutschland haben und wir werden es vermissen.

 

Special needs in der Schule

Wie Schulen Kindern helfen, die „aus dem Rahmen fallen“ und was ein „504“ und ein „IEP“ ist.

Auch an den Schulen ist man gut auf Kinder mit Special Needs vorbereitet. Hier gibt es nicht nur die Regelschul-Lehrkräfte wie bei uns, sondern auch Psycholog/innen, Förderschulpädagog/innen, eine/n Sozialarbeiter/in und manchmal auch Ergotherapeut/innen und Sprachtherapeut/innen. Sobald ein Kind „aus dem Rahmen fällt“ (vom Verhalten, den Leistungen, im sozial-emotionalen Bereich) gibt es einen genau festgelegten Ablauf an Prozessen, bei denen verschiedene Gremien versuchen, durch Maßnahmen eine Besserung zu erzielen. Als letzte Instanz, wenn nichts mehr hilft, tritt dann ein sogenanntes „Child Study Team“ zusammen (diverse Expert/innen, u. a. auch die Eltern und die Lehrkräfte) und man leitet eine Evaluation des Kindes ein. Bekommt das Kind dann eine medizinische Diagnose, z. B. autism spectrum disorder, dyslexia oder ADS/ADHS gibt es zwei verschiedene Maßnahmen:

  • 504 plan (civil rights law): Für Kinder, die ein Handicap haben, das durch Maßnahmen (accomodations) im normalen Klassenraum ausgeglichen werden kann, wird ein sogenannter „504 plan“ (gesprochen „five o four plan“, Abschnitt 504 im Rehabilitation Act.) erstellt. Dieser soll sicherstellen, dass das betreffende Kind nicht benachteiligt wird und an seiner Schule mitmachen kann (vergleichbar mit dem deutschen Nachteilsausgleich, also z. B. andere Testformate, mehr Zeit bei Tests, einen Rückzugsraum, Kopfhörer, Lesehilfe …).
  • IEP (special education law): Ist ein Kind durch seine Einschränkungen nicht in der Lage, in einem „normalen“ Klassenraum mit normalem Curriculum mitzulaufen, dann wird ein sogenanntes IEP – individualized education program – ausgearbeitet. Dies beinhaltet ein speziell an die Fähigkeiten des Kindes angepasstes Curriculum und spezielle Unterstützung durch „special education teachers“.

Ich kann nicht beurteilen, wie gut das System hier tatsächlich ist. Aber wir kennen zwei deutsch-amerikanische Familien, die sowohl ein neurotypisches als auch ein „special needs“ Kind haben. Und die sagten unabhängig voneinander, dass special needs-kids besser im amerikanischen System gefördert würden, während die typisch entwickelten, „durchschnittlichen“ Kids besser an deutschen Schule aufgehoben seien (ihre Kinder sind zurzeit in der middle school und highschool in zwei verschiedenen Städten). Wir sind zu kurz hier, als dass ich dazu etwas sagen könnte.

Aktuell findet in den USA gerade eine heiße Diskussion um die bevorstehende Neudefinition von Autismus statt – das macht die „American Psychiatric Association“. Viele betroffene Personen/Familien haben jetzt Angst, dass ihnen aufgrund der neuen Kriterien dieses „Label“ nicht mehr „zustehen“ könnte und sie somit auf Leistungen von Krankenkasse und Staat verzichten müssten (z. B. Hilfe in der Schule, Kostenübernahme von Therapien). Da fühlt man sich schon etwas ausgeliefert, weil unter Umständen auch politische und ökonomische Interessen mit persönlichen Situationen kollidieren.

Special Needs als Eltern

Welche vielfältige Unterstützung es für Eltern von Kindern mit Handicap gibt und wie gut der Austausch mit anderen tut.

Als Eltern eines Kindes mit „special needs“ stehen einem in Morristown zahlreiche „parent support groups“ für diverse Krankheitsbilder und Handicaps zur Seite: ADHD, autism spectrum disorder, dyslexia & reading disabilities, learning differences parent discussion group. Es ist beeindruckend, wie das Ganze vernetzt ist und man durch zahlreiche E-Mails über Treffen und Aktionen auf dem Laufenden gehalten wird.

Die Gruppen sind gut organisiert, wurden meist von betroffenen Eltern selber ins Leben gerufen, finanzieren sich über Spenden und sponsern Vorträge von Expert/innen – z. B. von Ärztinnen und Ärzten, die sich zu Diagnosen und Medikation äußern oder von Zuständigen vom „public service“, die die Abläufe an der Schule vom ersten Verdacht bis hin zur „Klassifizierung“ und den speziellen Hilfeleistungen erklären. Und man bekommt jede Menge nützlicher Tipps, gute Adressen von Therapeut/innen und Ärzt/innen und eben auch einen Einblick in das amerikanische System.

Ich treffe mich einmal pro Monat mit einer ADHD-Gruppe und es tut gut, sich mit Eltern, v. a. Müttern, auszutauschen, die im selben Boot sitzen. Wir erzählen und lachen viel, verdrücken aber auch – nur ganz selten – gemeinsam ein paar Tränchen. Man kennt die Nöte der anderen und fühlt einfach mit. Die meisten kennen eben das Schockgefühl im Bauch, wenn mal wieder das Telefon klingelt und man mit etwas zittriger Hand danach greift und sich fragt, was denn jetzt schon wieder in preschool oder Schule passiert ist. Oft geht es um praktische Fragen (z. B. „Die Schule hat das IEP von meinem Kind weggenommen. Was machen wir jetzt?“), manchmal ist es super traurig (als z. B. eine Mutter erzählt, dass ihr sechsjähriger Sohn mit ASS seine einjährige Schwester immer noch komplett ignoriert), manchmal auch lustig (als eine Mutter erzählt, dass ihr Sohn jetzt doch wegen schlechter Noten aus dem Fußballteam der Highschool geworfen worden ist, obwohl sie zuhause alle Hausaufgaben und Essays für ihn geschrieben hat – sie war zu schlecht 🙂 ).

Was macht man, wenn man in einer schweren Phase ist? Da gibt es verschiedene Strategien: Eine Mutter verrät, dass sie im Moment im Auto immer ganz laut den Song „What doesn´t kill you makes you stronger“ mitsingt und dann komische Blicke von den vorübergehenden Leuten abbekommt, wenn sie nach dem Einparken aussteigt und das Lied noch super laut aus dem Auto schallt. Eine andere Mutter meint, dass sie immer nach dem „silver lining“ sucht (also nach einer positiven Seite, die es eben auch immer gäbe). Bei mir hilft Laufen (in den allermeisten Fällen) – danach geht es besser weiter.

Einen Spruch, der hier immer mal wieder in der Elterngruppe zitiert wird, finde ich sehr bemerkenswert:

„Fair doesn´t mean that everyone gets the same thing. Fair means that everyone gets what they need.“
(Rick Lavoie, Advocate for Children with Learning Disabilities and Special Needs).

Und ab und zu erfährt man auch etwas von den sogenannten „normalen“ Geschwistern: Eine Mutter erzählt, dass sie ihren 16-jährigen Sohn, der mit den falschen Kumpels abhängt und mittlerweile mit Drogen zu tun hat, im Morgengrauen von einem Abholtrupp aus dem Bett direkt in ein „wilderness camp“ mitten im Nichts hat bringen lassen. Dort wird er für die nächsten sechs Monate bleiben. Ja, die Amis sind da echt nicht zimperlich. Aber vielleicht hilft es ja auch wirklich in einigen Fällen besser als das, was in Deutschland in solchen Fällen gemacht wird.
In Deutschland sind wir noch gar nicht in dieser „Szene“ drin und ich war bisher nur bei einem Treffen der Selbsthilfegruppe in Mönchengladbach. Die Stimmung dort war definitiv düsterer und zynischer als bei den Treffen hier in Morristown. Jedenfalls habe ich mich hinterher super schlecht gefühlt, während ich hier meist „beschwingt“ von den Treffen nach Hause fahre.

Leben mit Handicap: Unser Blick nach Deutschland
Nach meiner Aufräumreise nach Deutschland diesen Monat bin ich unruhiger als vorher, wenn ich an Ole denke. Mit dem Abstand, den wir mittlerweile von Deutschland haben, muss ich sagen, dass wir Deutschen „entwöhnt“ sind von Menschen mit Handicap. Mein Alltagsleben in Deutschland und hier bewegt sich in ziemlich ähnlichen Lebensbereichen (Einkaufen, Spielplätze, Schule, Kindergarten, Sportgruppen, Sport, Museen und Zoos), und in Deutschland sehe ich definitiv viel, viel weniger Leute mit Einschränkungen als hier. Wo sind diese Menschen alle in Deutschland??? In „Spezialeinrichtungen“? In den Förderschulen?

Sprachliche Fallstricke
Nun ein Wort zur Bezeichnung: Das Wort „behindert“ kommt mir nicht über die Lippen, weil man es als Schimpfwort im Alltag öfter hört – geht mal in die Schulen! Ähnlich schlimm finde ich die Kategorisierung „Behinderte“, weil es Menschen auf ein einziges Merkmal, nämlich ihr Handicap reduziert, das alle anderen Eigenschaften dominiert. Das ist ein Label, welches klar aus der Perspektive der „Nicht-Behinderten“ stammt und meiner Ansicht nach „Schubladendenken“ Vorschub leistet. Ich finde dagegen den beschreibenden, nicht kategorisierenden Begriff „Menschen mit Handicap/ Einschränkungen/ Behinderungen“ treffend und nicht stigmatisierend.

Die Benennung von Menschen mit Behinderung ist auch in den USA ein Thema. „Special needs“ ist hier gang und gäbe, aber einige Betroffene wehren sich dagegen, weil sie das als herablassend empfinden. Sie bevorzugen die Wörter “disability” (Behinderung) oder “impairment” (Beeinträchtigung). Manche gehen aber auch in die andere Richtung und sagen statt “disability”, dann z. B. „learning difference“ (Lernunterschied) oder „mentally/physically challenged.“ (wörtlich: mit geistiger/körperlicher Herausforderung).

Ein komplexes, abendfüllendes Thema – manche halten das für unwichtige „Wortspielereien“, aber ich finde, dass die Sprache einen großen Einfluss darauf hat, wie wir die anderen Menschen wahrnehmen bzw. wie bestehende, diskriminierende Denkweisen mit bestimmten Wörtern weiter gefestigt werden. Aber mal abwarten, wie Ole das einmal sehen und welche Variante er bevorzugen wird.

So wie ich die Dinge im Moment für uns sehe

Was man vor allem für Kinder mit Behinderung braucht und welche kleinen Misserfolge von Ole dennoch „heartbreaking“ für mich sind. Warum wir aber zuversichtlich sind, nicht aufgeben und hoffen, dass für Ole alles gut wird.

 

Das Leben mit Kindern mit Handicap unterscheidet sich nicht grundsätzlich vom Leben mit typisch entwickelten Kindern – so jedenfalls meine These. Allerdings braucht man eine große Portion „Fachwissen“ über das Handicap und damit verknüpft auch handfeste „Verhaltensregeln“ für den Alltag (z. B. will man ja nicht „aus Versehen“ oder aus Unwissenheit die Verhaltensweisen verstärken, die „sozial unerwünscht“ sind). Was aber die restlichen „Zutaten des Großbekommens“ angeht, so sind es dieselben wie bei neurotypischen Kindern – auch, wenn es von vielem gern ein bisschen mehr sein darf.

Man braucht vor allem:

  • unendlich mehr Geduld – bis der Knopf zu ist und der Anschnallgurt fest sitzt
  • ziemlich viel mehr Kraft – manchmal ist Ole wie ein rohes Ei und springt wie ein Flummi durch den Raum – und ich muss hinter ihm herlaufen, ihn immer wieder auffangen, das Ganze blitzschnell und wehe ich passe eine Sekunde nicht auf – meltdown, Streit mit den anderen – da bin ich oft morgens um sieben Uhr schon fix und fertig
  • mehr Geld – für Therapien, die die Kasse nicht zahlt oder für die Übersetzungen der Gutachten, die uns allein letzten Monat über 2.500 Dollar gekostet haben
  • mehr Initiative und Durchsetzungsvermögen – wenn Ärzte und Ärtzinnen die Sache anders sehen: Unser Kinderarzt in Deutschland weigerte sich, Ole als 2-Jährigem eine Sprachtherapie zu verschreiben: „Jetzt hören Sie auf. Mit dem Kind ist alles in Ordnung. Ich mache mir mehr Sorgen um Sie!“ Erst als wir auf eigene Kosten mit der Therapie angefangen haben, gab es im Nachhinein eine Verschreibung.
  • ein dickes Fell und guten Humor – wenn die Kassiererin im Supermarkt sich über Oles Verhalten mokiert und mir vor versammelter Kundschaft einen Vortrag hält: „Also, wenn das mein Kind wäre, dann …“ Oder wenn die Mitmenschen wieder mal alles besser wissen und z. B. „einfach nicht glauben, dass es ›das‹ (z. B. ADHS) wirklich gibt“ und einem dann ein fehlendes Erziehungskonzept unterstellen. Oder wenn Kindergärtnerinnen und Erzieherinnen einen als „anstrengende und nervige Eltern“ empfinden, die wieder eine Extrawurst für ihr Kind wollen.
  • größere Bereitschaft, sich selber schlau zu machen und dieses Wissen im Sinne von Oles bestmöglicher Entwicklung umzusetzen – z. B. um Förderziele bestimmen und Therapien koordinieren zu können oder auch um Oles Rechte durchzusetzen – das macht niemand für uns.
  • mehr Platz im Regal – Oles „Akte“ ist dicker als meine
  • und dann eine starke Vision für die Zukunft, großes Durchhaltevermögen und eine ganze Portion mehr Zuversicht, dass am Ende alles gut wird.

Und „Alles gut“ heißt, dass Ole sich weiterentwickelt, noch einiges aufholt, gut durch die Schule kommt und dann mit seinen Einschränkungen in einem stabilen sozialen Umfeld und einem Job, der ihm Spaß macht, selbstbestimmt und selbstständig leben kann. Wir wünschen ihm ganz einfach ein glückliches und zufriedenes Leben mit Menschen, die ihn so nehmen, wie er ist und in einer Gesellschaft, die Teilhabe für alle Menschen ermöglicht, ohne dass er sein Leben lang dafür kämpfen muss.

Und dann brauche ich noch unendliche Energie, um „Misserfolge“ von Ole zu verkraften. Es ist einfach „heartbreaking“ für mich,

  • ihn wie ein kleines Häuflein Elend mit verweintem Gesicht zu sehen, wenn ich ihn in der preschool abholen muss
  • wenn er nicht weiß, was er – wieder mal – falsch gemacht hat
  • wenn er frustriert und traurig ist, weil er aneckt, abgelehnt wird und sich selbst auch nicht erklären kann
  • mit ihm an der Hand im Gang der preschool zu stehen und mir anhören zu müssen, was er diesmal wieder gemacht hat – danach bin ich fix und fertig, das haut mich um, und manchmal hilft nur noch, die Bettdecke über den Kopf zu ziehen

Aber dann muss man sich selbst immer wieder am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen, aufstehen und das Kind aufbauen und ihm Zuversicht geben.

Natürlich werden wir immer – wie alle Eltern – hinter Ole stehen und ihn unterstützen. Der Tipp der „parent support group“ in diesem Bereich:

„Be cordial and persistent“ –
Sei aufrichtig und beharrlich.

Und:

„Don´t take a „no“ for an answer“ –
d. h. auch gegen Widerstände weitermachen und nicht aufgeben.

Packen wir’s!