Wie der Marathon langsam in Manhattan einzieht und wie viele Dollars (!) ich mittlerweile eingesammelt habe. Welches die besten „daily tips“ sind und was ich in mein Marathon-Köfferchen packe. Und schließlich: Frühstück mit einer stadtbekannten Frau.
Oktober: Wir nehmen einen Gang raus
Noch fünf Wochen bis zum Marathon. In diesem Monat laufe ich „nur“ 203 Kilometer. Tapering ist angesagt: „At this point, the hay is in the barn“. Heißt: Die Ernte ist eingefahren und mit ihr die Arbeit der letzten Monate. Jetzt folgt das Feintuning und das Gesundbleiben – im Gegensatz zum Kinderkriegen kann man den „Großen Tag“ nämlich verpassen – und das wäre ja echt ärgerlich. Außerdem gibt es eine Generalprobe quer durch Manhattan, Brooklyn und Queens (Three Bridges Run – ein Genuss) und wieder Megastress mit dem Wetter (Schneesturm mit Stromausfall und jeder Menge umgefallenen Bäumen). Das Marathon Kick-off Rennen zu Beginn der Marathonwoche muss daher abgesagt werden.
Wir sind auf der Zielgeraden und das spürt man direkt an mehreren Stellen. Ab Anfang Oktober ist es in Manhattan unübersehbar: Das Motto des diesjährigen Marathons „I’m in“ prangt in überdimensionalen Lettern auf Bussen, in den subways und als Banner in Einkaufszentren. Dazu gibt es riesengroße Fotos von Läufer/innen oder begeisterten Zuschauer/innen vom letztjährigen Rennen.
Laufend 6.600 Dollar einfahren
Anfang Oktober ist auch die Deadline für das Fundraising. Wer jetzt nicht die 2.600 Dollar zusammen hat, muss den Rest aus eigener Tasche zahlen. Beim Training im Central Park äußern sich ganz viele meiner Mitläufer/innen total erleichtert, dass es nun vorbei ist, weil die Geldsammelei noch anstrengender ist als das Training. Ja, da schließe ich mich ihnen absolut an! Aber es hat sich gelohnt: Ich habe rund 6.600 Dollar über die letzten vier Monate gesammelt – 2.600 Dollar von mir als mein eigenes Geburtstagsgeschenk und die restlichen 4.000 Dollar von Freunden und Familie! Damit werden jetzt etwa 120 Kinder für ein ganzes Jahr jede Woche ans Laufen herangeführt 🙂 .
Bei uns in der Carton Road liegt auf einmal das „2011 Official Handbook“ im Briefkasten: 50 Seiten über „race week, expo, start und route, finish, Regeln, Sicherheit, Zuschauertipps … Es geht z. B. auch um die Frage, wie und an welcher Stelle auf der Strecke man eine Chance hat, seine Lieben in dem ganzen Mega-Gewusel aus Sportler/innen und Zuschauermenge zu finden. Nachdem ich beim Halbmarathon in Philadelphia glatt an Marc und den Jungs vorbeigejoggt bin, obwohl sie alle gewinkt und sich die Seele aus dem Leib geschrien haben, lese ich mir das schon aufmerksam durch. Coole Besserwisserei wäre eigene Dummheit.
Ab Mitte Oktober flattern dann Tag für Tag „daily tips“ per E-Mail ins Haus (von den NYRR – knapp, auf den Punkt gebracht und öfter mit kleinem Wortspiel 🙂 ). Da geht es dann um letzte Tipps zu Essen, Ruhe, Outfit, Trinken …
Hier eine kleine Auswahl der besten Tipps:
- Der einfachste, wie auch genialste Tipp kommt als allererstes: „Nothing new on marathon day!“ Man soll also nicht auf die Idee kommen, andere Klamotten anzuziehen oder vielleicht ein anderes „Powergel“ auszuprobieren, keine brandneuen Schuhe und auch nicht das allererste Mal in seinem Leben Kaffee trinken (Koffein soll leistungssteigernd wirken, aber ich werde brav bei Cola bleiben).
- Der überraschendste Tipp: „Drink to thirst“ – bitte nach Durstgefühl trinken. So weit, so gut. Aber dann wird explizit davor gewarnt, dass man auf keinen Fall zu viel Flüssigkeit zu sich nehmen sollte. Bis jetzt hieß es doch immer „trinken, trinken, trinken“?! In den letzten Jahren, seitdem Marathon ein Art Breitensport geworden ist, haben sich einige Hobby-Marathonläufer/innen aber schon zu Tode getrunken (Hyponatriämie – Natriumkonzentration im Blut zu gering)! Ich wusste gar nicht, dass das überhaupt geht. Na ja, wir sind eben keine Kamele, die auf Vorrat trinken können. Regel: Solange der Urin „pale yellow“ ist, ist alles gut, bei „Fantafarbe“ heißt es: mehr trinken, wenn er fast „farblos“ ist (Champagner!), dann ist man vollgepumpt (also kein Wasser mehr).
- Der realistischste Tipp: „How to deal with the unexpected – your watchword (Parole): „Hope for the best, prepare for the worst“, wie z. B. Seitenstiche, Krämpfe, sonstige Schmerzen, zu viel Wind oder extreme Kälte, Dauerregen (oh weh), zu viele Mitläufer/innen, überwältigende Zuschauermassen, Durchfall oder gar eine Magen-Darm-Infektion. Ja, wenn „the unpredictability of a marathon comes your way”, ist vieles drin. Wir werden sehen.
- Der amerikanischste Tipp fürs Hinterher – „What to do after the race“: Unter anderem „Remember to smile for the cameras“. Da gab es schon von anderen erfahrenen Mitläufer/innen diverse Ratschläge für den Moment, in dem man über die Ziellinie läuft: sich noch einmal aufrappeln, Haltung annehmen (egal, wie elend einem ist), schön nach oben gucken, lächeln und möglichst alleine durch den Metallkasten laufen (notfalls warten). So gelingt der „picture-perfect finish“. Außerdem wird angemahnt: „Keep walking“ – nicht stehenbleiben hinter der Ziellinie, sondern weitergehen, sonst gibt es einen Rückstau. Der lange Marsch durch den Central Park hinter der Ziellinie bis zum Ausgang ist hier berühmt-berüchtigt.
- „Start getting enough sleep – stockpile those hours.“ Pustekuchen – wir versinken Ende Oktober im allgemeinen Chaos wegen eines überraschenden Schneesturms: Stromausfall, umgefallene Bäume, geschlossene Schulen, eiskaltes Haus, dazu noch Besuch aus Deutschland (jetzt haben wir sechs Kinder im Haus!) – also kein „Schonprogramm“ und „Vorratsschlafen“ für mich 🙁 .
- Determine your goal Marathon pace“ – das ist ganz schön schwierig: Wie bestimme ich mein Tempo für eine solche Strecke? Als Faustregel wird hier folgende Formel gehandelt: Halbmarathonzeit x 2 plus 10-15 Minuten. Das „Team for Kids“ baut direkt „Netz und doppelten Boden“ ein:Setzt euch drei Ziele:
Nr. 1: Traumziel – super, fantastisch, perfekt.
Nr. 2.: Ziel mit Abstrichen – ein wirklich guter Lauf!
Nr. 3: (wenn „many things came along”) – Zeit akzeptieren – you are still a marathoner!Und für uns Anfänger/innen gilt sowieso folgende Maxime: Ankommen ist alles!
Langsam wird es auch Zeit, Übernachtung, An- und Abreise zu planen. Also: besser nicht mit dem eigenen PKW fahren, da Manhattan an dem Tag im totalen Verkehrschaos versinkt. Hotel buchen (sauteuer!) und natürlich ein „Köfferchen“ für die Übernachtung packen. Dazu gibt es eine Liste (wie in den „bald-Eltern“-Zeitschriften). Ob auf dieser Liste wohl auch so überflüssige Dinge draufstehen wie „kochfeste Nachthemden“? 🙂
Marathon-Köfferchen
- Laufklamotten (Tipp: „Dress for success“: nichts Neues, mehrere Lagen, Wegwerfklamotten), Müllbeutel (vielseitig nutzbar: zum draufsitzen, während man auf den Start wartet oder zum Anziehen bei Wind und Regen – einfach drei Löcher für Kopf und Arme reinschneiden) und Laufschuhe (eingelaufen, aber nicht zu alt)
- Labello, Pflaster, Sonnencreme, Sonnenbrille, Subway Card (falls man unterwegs aussteigt), Geld, Essen für unterwegs (Power Cola-Gummibärchen, zwei Fastfood-Salzpäckchen), Startnummer und elektrischer Timer für die Schuhe, Uhr/Handy
- Wechselklamotten für hinterher
- und natürlich meine Musik (obwohl „strongly discouraged“)
Während alles ein bisschen geschäftiger und der „race day“ konkret geplant wird, treten wir beim Laufen aufs Bremspedal. Insbesondere, was die Entfernungen angeht, aber nicht bei den intensiven kurzen Läufen. Fitter oder besser werden ist jetzt in den letzten Wochen nicht mehr drin. Im Gegenteil, der Körper soll geschont werden und (Glykogen)reserven aufbauen. Beim „Schwangersein“ gibt es dieses „Herunterfahren“ der körperlichen Anstrengung in den letzten Wochen bekannterweise nicht, denn da wird’s jetzt deutlich beschwerlicher (im wahrsten Sinne des Wortes). Ich finde das Runterschalten ungewohnt, man muss echt locker lassen, der Körper will eigentlich mehr, und viele werden „antsy“, d. h. hibbelig wie die Ameisen.
Generalprobe: Three Bridges Run
Die Generalprobe klappt. Super Wetter: 20 Grad, perfekt. Vom Central Park geht’s die West Side am Hudson River nach downtown (also „unten“) bis zur WTC-Site, dann quer rüber über die Brooklyn Bridge (erste Brücke) nach Brooklyn, dann wieder nach Norden über die Pulaski Bridge (zweite Brücke) nach Queens rein und weiter nach Norden, am Ende über die Queensboro Bridge (dritte Brücke) rüber nach Manhattan und zurück zum Central Park. Laut meiner i.Run-App kommt Folgendes dabei raus: 33,27 Kilometer in 03:00:48 Stunden (1.838 kcal), 1.920 Höhenmeter – ja, bei den Brücken geht es immer ganz schön bergauf.
Meine Gruppe läuft 9 min/Meile – so weit, so gut. Aber ein paar verrückte „Weiber“ machen vorne unheimlich Tempo und der Trainer (wegen eines Marathons am Vortag handzahm) muss sie immer wieder bremsen.
In einer Gruppe zu laufen hat meiner Meinung nach viele Vorteile:
- Ich bin in Gesellschaft und das macht Spaß, wenn das Tempo stimmt.
- Ich muss den Weg nicht suchen und es gibt eine spektakuläre Sightseeingtour dazu: frühmorgendliche Stimmung der West Side direkt neben dem Hudson River, wir sehen Ellis Island und „Lady Liberty“ langsam immer näher kommen, traben über die wunderschöne Brooklyn Bridge und haben spektakuläre Blicke auf die Skyline von Manhattan (zumindest beim „Schulterblick“).
- Ich werde „mitgezogen“. Die Möglichkeit auszusteigen, fällt für mich flach, weil ich den Weg nicht zurückfinden würde (NIEMALS würde ich im ganzen Straßenwirrwarr die Fußgängerebene auf der Queensboro Bridge finden!). Und einige verlassene Gebiete in Brooklyn und Queens sehen auch nicht wirklich empfehlenswert zum „Verlorengehen“ aus.
Es gibt aber auch echte Herausforderungen:
- Es geht super früh los, gegen sechs Uhr – da muss man erst einmal um diese Uhrzeit zum Treffpunkt kommen (der erste Zug aus Morristown fährt am Wochenende erst später und ich muss daher bei einer Lauffreundin schlafen). Um diese Uhrzeit offene Toiletten zu finden, ist ebenfalls nicht leicht – die im Central Park sind jedenfalls noch abgeschlossen
- Wenn es losgeht, geht es los. Und danach kann man nicht einfach „mal eben anhalten“, wenn es etwas zu erledigen gibt (etwa der Schuh drückt, man „mal eben“ muss oder andere Musik einstellen möchte). Wer kurz anhält, muss anschließend ganz schön sprinten, um wieder aufzuschließen. Und das würde ich nicht packen bei dem „Grundtempo“. So kam es, dass sich „Jessie´s Girl“ auf Endlosschleife in den ersten anderthalb Stunden bei mir ins Gedächtnis gebrannt hat und auf ewig mit der West Side und der Morgenstimmung verbunden ist (war aus Versehen so eingestellt 🙂 ).
- Man läuft quasi „blind“, weil man außer dem Auf und Ab der Läufer/innen vor einem nichts sieht, wie z. B. Bordsteine, Schlaglöcher, Laternen oder Straßenschilder. Bei einem Hindernis jeglicher Art gilt: Arm hoch, dann wissen die Hinteren, dass da was kommt. Trotzdem kann es rumsen – ein Mädel macht sich an einem Bordstein lang und hat das Knie blutig aufgeschlagen. Lange wartet die Gruppe nicht, also entweder schnell aufstehen und weiterlaufen oder zurückbleiben.
- Richtig gefährlich wird es dann „downtown“, wo die grüne Ampelphase nicht für die ganze Truppe ausreicht: Im Pulk laufen ist in Manhattan jedenfalls nicht so ganz ohne und eine der Läuferinnen rennt fast vor ein Auto! Also lieber kleine „Zwangspausen“ vor roten Ampeln einlegen!
Frühstück mit Mary Wittenberg (Oktober)
Jetzt mal kurz raus aus den Lauf-Infos und zu einem wichtigen Frühstück kurz vor dem Marathon-Tag: Zusammen mit anderen eifrigen Spendensammler/innen erhalte ich eine Einladung zu einem Frühstück mit Mary Wittenberg, der Chefin der NYRR (New York Road Runners). Wittenberg, selbst früher Marathonläuferin unter drei Stunden, tough und dürr, hat den Laden in den letzten Jahren umgekrempelt und scheint unbändige Power zu haben. Sie ist interessiert, wie es bisher so gelaufen ist mit dem Team und möchte Feedback. Auf meine Frage, ob die Verrazzano-Bridge gut vor Bomben gesichert sei, winkt sie ab: Das NYPD, von NYRR angestellte Sicherheitsleute, der National Park Service, die United States Coast Guard und Reservepersonal der United States Army sind im Einsatz – es gibt Taucher/innen und Undercover-Polizist/innen, die sich sowohl als Läufer/innen als auch als Zuschauer/innen unters Volk mischen. Gut, dann bin ich beruhigt.
Als einer der anderen seine Sorgen äußert, dass das Wetter vielleicht nicht gut wird, platzt es spontan aus ihr heraus: „I don´t care about the weather, the weather is what it is.“ Punkt für sie.
Ihre Sorge ist eine ganz andere: Sie hofft inständig, dass alle 47.000 Teilnehmer lebend im Ziel ankommen und niemand unterwegs stirbt. Bei den hohen Teilnehmerzahlen und dem teilweise hohen Alter der Läufer/innen geht sie von einigen Herzinfarkten aus – es gibt jede Meile eine Krankenstation, ausgestattet mit Defibrillatoren und besonders vielen CPR-Units am Ende (cardiopulmonary resuscitation – Herz-Lungen-Wiederbelebung). Verstanden – wir drücken die Daumen.
Was gibt es noch? Von den 145.000 Bewerbungen werden ca. 47.000 laufen. Anlässlich des zehnten Jahrestages nach „9/11“ werden auch Angehörige der Opfer von Flight 973 mitlaufen. Außerdem ist dieser Marathon der Norwegerin Grete Waitz gewidmet, die den New York Marathon neun Mal gewonnen hat und letztes Jahr an Krebs gestorben ist. Als Andenken wird ihr Mann daher mitlaufen.
5K-Club Ich habe insgesamt 6.600 Dollar gesammelt und bin daher in den exklusiven „5K-Club“ gekommen (was ich wochenlang nicht verstanden habe – wieso „5k“ – 5000 Meter – ich laufe doch einen Marathon??). Jetzt habe ich verstanden, dass das 5K für 5.000 steht und damit die Höhe der Spende gemeint ist. Als Geschenk: ein T-Shirt und 6 bleacher seats (das sind Plätze auf den Tribünen im Zieleinlauf). |
Ende Oktober fühle ich mich irgendwie müde und schlapp – vielleicht war das Tempo beim Drei-Brücken-Lauf doch zu schnell für mich und ich habe dort einige „Federn gelassen“. Vielleicht ist es auch nur die Erkältung. Der überraschende Schneesturm kurz vor Halloween gibt mir dann allerdings den Rest – ich bin genervt, gestresst und einfach nur froh, wenn es bald los geht. Von wegen, in den letzten Wochen genug schlafen … „Stockpile those hours“ – ist einfach nicht drin bei mir.
Ich habe übrigens immer noch Angst, dass ich mich verlaufe, obwohl die Chance bei 47.000 Mitläufer/innen wohl eher gering ist. Aber German Silva ist tatsächlich 1994 im Central Park einmal falsch abgebogen, hat am Ende aber dann doch noch gewonnen – komplett verrückte Geschichte.
Special: Marathon-Countdown, November 2011 – noch sechs Tage bis zur Ziellinie |