Gut getarnt im Ami-Land

Die Hälfte ist um – ein Blick von außen

März 2011: Warum wir tatsächlich ein bisschen wie in amerikanischen Filmen leben und was die 15 Monate New Jersey mit uns und unseren vier Jungs gemacht haben. Was das Tolle an amerikanischen Cafés ist und wer Deutschland für den größten Kontinent der Welt hält.

Die Hälfte unserer USA-Zeit ist nun um. Wie haben wir uns nach 15 Monaten New Jersey verändert? Sind wir amerikanisierte Deutsche geworden? Oder doch eher ziemlich deutsche internationals? Oder vielleicht auch undefinierbar? Jetzt, Ende März, haben wir Bergfest und – ganz ehrlich – da wird mir schon ein bisschen komisch ums Herz. Jetzt ging es dann doch irgendwie schnell, und ich werde schon traurig, wenn ich an all die Leute denke, die wir hier getroffen haben und die wir bald schon wieder verlassen müssen. Denn einige von ihnen sind inzwischen wirklich unsere Freunde geworden und gehören zu unserem Leben hier.

Ob wir schon ein bisschen mehr amerikanisch als deutsch sind, ist eine ziemlich komplexe Fragestellung. Daher heute zuerst mal das, was euch so von außen auf den ersten Blick auffallen würde, kämet ihr uns hier besuchen. Und dazu gibt es die Dinge, die mir an unseren Kindern auffallen. Die „inneren“ Veränderungen sind ein anderes Kapitel, über das ich mir erst einmal selbst klar werden muss. An einigen Stellen gehen die äußeren und inneren Veränderungen sicherlich Hand in Hand und lassen sich kaum scharf trennen.

Die Kinder sind ja jünger und deshalb viel formbarer als Marc und ich. Und sie sind dem amerikanischen System viel unmittelbarer ausgesetzt, da sie in Schule und preschool jeden Tag eine konzentrierte Dosis „American Way of Life“ injiziert bekommen.

Leben wie im Film?
Die Annahme, man kenne die USA aufgrund von Filmen schon ganz gut, hat sich im ersten Jahr für uns in vielerlei Hinsicht als zum Teil schmerzhafter Trugschluss herausgestellt. Aber von außen betrachtet weist unser Leben tatsächlich viele Ähnlichkeiten mit dem „suburban life“ auf, das jeder von den amerikanischen Serien und Filmen kennt:

 

Der typische Zeitungswurf
Morgens vor dem Frühstück muss Marc die Einfahrt hinunterlaufen, um sein heiß geliebtes „Wall Street Journal“ vom Boden aufzuheben. Denn das wird morgens – wie man es so schön kennt – einfach mit gezieltem Wurf aus dem Lieferwagen hinausgeworfen und ist immer in eine (bei Regen sogar in zwei) Plastikfolie(n) eingepackt. Wenn Marc schon mal unten an der Straße ist, guckt er direkt auch nach der Post, die im Briefkasten (für alle zugänglich) bei Wind und Wetter ausharrt. Dieser Weg zur Tageszeitung und Post war dann aber auch schon eine der wenigen alltäglichen Aktionen, die hier mehr körperliche Aktivität von uns erfordert als in Deutschland. Die andere ist übrigens das Einkaufen, bei dem man sich tatsächlich einen Wolf läuft, um im riesigen Supermarkt alles zusammenzubekommen.

 

Der Kühlschrank in unserer Küche – von außen verchromt und natürlich mit automatischer Eiswürfelmaschine (cubes und crushed) – ist übersät mit Zetteln, Notizen und Plänen, die von diversen Magneten gehalten werden. Magnete gibt es hier sehr oft gratis von den Geschäften, einfach draufheften und nicht mehr vergessen. Ich frage mich manchmal, wo ich die ganzen Zettel in Deutschland untergebracht hatte 🙂 .
Dann haben wir seit einigen Monaten einen Wasserspender, wie ich ihn von ärztlichen Praxen in Deutschland kenne. Das Leitungswasser hier ist so stark gechlort, dass man es nicht trinken sollte. Und ich war es einfach leid, das Wasser flaschenweise bzw. kanisterweise Woche für Woche anzuschleppen. Seltsamerweise gibt es hier nirgendwo Getränkekästen, ganz zu schweigen von Getränkeläden – warum eigentlich nicht?

Labberbrot zum Frühstück
Zum Frühstück gibt es leider mangels Alternative dieses Labberbrot, was nur getoastet halbwegs erträglich ist. Aber zumindest kommt Tim (7) mit seinen Wackelzähnen auf seine Kosten. Wir trinken übrigens alle unterwegs schon ganz routiniert aus den Wasserfontänen, die hier überall zu finden sind.

Wir laufen oft durch die Garage aus dem Haus raus bzw. rein, das Tor ist im Sommer häufig den ganzen Tag offen und unsere Haustür ist auch meist nicht abgeschlossen (d. h. man kann sie von außen einfach öffnen, indem man den Drehknopf herumdreht). Direkt vor der Garage steht der Basketballkorb, an dem vor allem die Kids und Marc im Moment Bälle werfen. Das ist wirklich schon sehr amerikanisch, aber es macht echt Spaß, und das Ding kommt auf jeden Fall mit nach Deutschland!
In der Garage steht inzwischen ein Geländewagen, der uns im Winter gute Dienste leistet, aber eben auch typisch amerikanisch ist und nicht mit nach Deutschland kommt 🙂 , denn damit lässt einen in Deutschland keiner die Spur wechseln. (Anmerkung 2019: Das wäre 2011 so gewesen. In den letzten sind die „dicken, stinkigen SUVs“ ja leider auch in Deutschland gesellschaftsfähig geworden, obwohl sie in unseren Wintern definitiv nicht nötig sind). Beide Autos haben inzwischen übrigens eine dicke Blötsche – Tarnung ist alles 🙂 . Zugegeben: Die Beule in den BMW habe ich gefahren, beim Toyota hat das einer unserer Gäste erledigt – immer war die Garage irgendwie im Weg und ich kann mich nicht entscheiden, wer schlimmer aussieht: die Autos oder unsere Holzgarage.

In den Sommermonaten haben wir hier einen „Mähservice“ (auf Englisch „landscaping“), der die riesigen – 3.000 Quadratmeter großen – Rasenflächen mäht. Die Dinger erinnern allerdings eher an Traktoren als an die deutschen Rasenmäher.

 

Wenn es im Sommer dann richtig heiß wird, haben wir im Haus oft die Klimaanlage (AC = Air Conditioning, oder „central air“ genannt) an, weil man es sonst einfach nicht aushält. Und im Garten steht dann der große Pool, in dem man sich mal richtig runterkühlen kann, wenn es einfach nur noch schwül und unerträglich ist.

Ansonsten verbringen wir fast alle leider viel zu viel Zeit im Auto (ein Riesenproblem für mich) – einzige Ausnahme ist Marc, der sein Büro um die Ecke hat und nicht wie in Deutschland 40 Minuten fahren muss.

Außerdem haben wir schon ziemliche Übung darin, die Kids für Urlaube aus der Schule zu nehmen. So etwas geht in Deutschland ja gar nicht, aber hier ist es völlig normal. Für unseren Deutschlandurlaub im Dezember haben wir die Kids für neun Tage beurlauben lassen, ansonsten hätte es sich gar nicht gelohnt.

Wie sieht es bei Theo, Tim, Ole und Paul aus?
Alle vier können schon richtig gut Englisch verstehen und reden, der eine vielleicht etwas besser als der andere, aber die neue Sprache ist für keinen mehr eine Einschränkung wie zu Beginn. Leider gar nicht so schön ist die Tatsache, dass alle ihr deutsches Verkehrsverhalten bzw. Bewusstsein für das Überqueren von Straßen verloren bzw. keine Gelegenheit gehabt haben, es überhaupt zu lernen (wie in Pauls Fall). Denn wie gesagt gehen wir eben viel zu selten zu Fuß über Straßen (entweder fahren wir Auto oder laufen über Parkplätze).
Fangen wir bei dem Jüngsten an:

PAUL (4 Jahre)

Er begann gerade damit, Deutsch in ganzen Sätzen zu reden, als wir im Januar 2010 hier ankamen. Jetzt spricht er schon ganz viel Englisch, hat aber immer noch einen großen Anteil deutscher Wörter im Englischen – und natürlich auch umgekehrt. Seit Neuestem fragt er z. B. Dinge wie: „Wie sagt man ›Sonne‹ in German?“ Da stutzt man zuerst mal: „He? … Sonne ist deutsch, also Sonne! Oder meinst du „sun“ auf Englisch?“ Wie man sieht, ist Paul noch dabei, die beiden Sprachen zu sortieren.

Er hat sich komplett an die strenge Disziplin der preschool gewöhnt, setzt sich super lieb im „criss-cross-applesauce“ (Schneidersitz) morgens in den Kreis und reiht sich geduldig in die Schlange der Kinder ein – egal, ob es zum Spielraum, zur Toilette oder nach draußen geht.
Seinen „Schuhauszieh-Reflex“ vom deutschen Kindergarten hat er komplett verloren. Kein Wunder, denn hier darf man ja keine Hausschuhe anziehen: „We have to be ready for a firedrill anytime“. Und diese Feuerübung gibt es hier jede zweite bis dritte Woche!

Nur die Wettrennen mit Ole (5) morgens zu den Klassenräumen kann ich Paul nicht abgewöhnen – da spielt wohl sein unbändiger Wille bzw. sein Bedürfnis eine Rolle, endlich mal nicht der Letzte zu sein und auch mal als Erster anzukommen. Mein Trick („Wer schleicht sich an der Direktorin vorbei, ohne dass sie euch sieht?“) funktioniert schon lange nicht mehr, und so stürmen die beiden immer noch sehr unamerikanisch ungesittet – und nicht mit „walking feet“ – morgens in die Einrichtung.

Wenn ihn jemand nach seinem Namen fragt, sagt er brav: „I’m Paul“ und fängt sofort an, seinen Namen auf Englisch richtig zu buchstabieren – dank amerikanischem literacy-Drill ein brainwash. Ebenso liebt Paul die sogenannten „read-along-books“, die es hier überall gibt, damit die Kids sich im Lesen verbessern.

 

Das sind Kinderbücher mit einer CD, auf der ein Sprecher die Geschichte vorliest. So hört Paul sich die CDs an, guckt gleichzeitig in das Buch und weiß dank der „page turning signals“, wann er umblättern muss. Auf diese Weise hört er ganz oft „Curious George“, die Geschichten von dem neugierigen kleinen Affen, der ziemlich viel Quatsch anstellt.

Außerdem teilt Paul einige kulinarische Leidenschaften mit vielen Amerikanerinnen und Amerikanern: Zum einen liebt er „corn on the cob“ (Maiskolben), das er vom Kolben von links nach rechts abknabbert. Zum anderen steht er voll auf das Eis „Mint-Chocolate-Chip“ – ziemlich grün, minzig und schokoladig. Die Leute hier lieben überhaupt den minzigen Geschmack – das allein kann ich ja noch nachvollziehen. Aber in Kombination mit allem Möglichen? Damit kann man mich jagen … Aber für Paul kaufe ich es natürlich trotzdem.

OLE (5 Jahre)

Für ihn war die Umstellung aufgrund seiner sensorischen Wahrnehmungsstörung besonders schwer. Für Kinder wie ihn sind Veränderungen anstrengender, und es fällt ihnen sehr schwer, sich an neue Lebensumstände anzupassen. Die neue Sprache kam dann natürlich noch oben drauf. Aber auch Ole hat sich in den letzten Monaten eingefunden und sich an seine neue Routine gewöhnt. Er geht nach wie vor zweimal in der Woche zur Ergotherapie und hat große Fortschritte im motorischen Bereich gemacht. Sein Englisch ist mittlerweile richtig flüssig und er kann alles sagen, was ihm so am Herzen liegt. In seinem Spezialgebiet „space“ kann er die Fachbegriffe auch auf Englisch, weil wir englische Bücher und Filme darüber haben.

Dann kann er darüber auch mit den anderen Kids in der preschool reden – dort geht er so mittelgerne hin. Jeden Morgen bekommt er seine Lunchbox in die Hand gedrückt – eine Art Minikoffer, von innen mit Isoliermaterial bezogen, von außen schön bunt. Da steckt dann das Essen drin, das er mittags in der preschool isst: Apfelmus, Joghurt, Käsebrot, Toppas und Wasser. Alle Kids haben so eine Box.

 

Ole hat, genau wie Paul, seinen „Schuhausziehreflex“ verloren, setzt sich morgens ohne zu mucken in „criss-cross-applesauce“ in den Morgenkreis und lauscht den Geschichten. Die Leute hier lesen den Kids unendlich viele Geschichten vor – das ist doch mal gut, auch wenn der Hintergrund (die ganze Lesenlernerei in frühen Kindesjahren) für mich nicht nachvollziehbar ist. Ole kennt sich gut mit den Kontinenten aus, und er weiß so ungefähr, wo wir auf dem Globus sind und wo Deutschland liegt. Er hat sich ziemlich an die ganzen grauen squirrels (Eichhörnchen) gewöhnt, und er entdeckt die Rehe oft als erster. Wenn wir einen Hasen sehen, dann ist er völlig aus dem Häuschen, denn die sind hier eine absolute Rarität. Dann müssen wir an der Stelle, wo wir ihn gesehen haben, jeden Tag eine Möhre ablegen.

TIM (7 Jahre)

Tim hat etwas ziemlich Amerikanisches an sich: Er hat den amerikanischsten Akzent von allen vieren (im Moment). Er fängt ja gerade erst mit dem Lesen an und hat somit in den ganzen Monaten davor die Sprache nur übers Gehör aufgenommen. Für ihn sind „Socken“ (socks) eben ganz klar [s, ɑ, k, s] und nicht wie für uns Schulenglisch-Lernenden [s, ɒ, k, s]. Wenn er [ˈ, w, ɒ, d, ə, b, ɒ, d, l] (waterbottle) sagt, dann gucken Marc und ich uns immer an und müssen grinsen bzw. uns schütteln. Eigentlich müssten wir direkt im Anschluss an unseren Aufenthalt in den USA einen mehrjährigen Aufenthalt in London planen, damit wir das wieder „geradebiegen“ können – ich mag das britische Englisch einfach viel lieber. Tim kennt die amerikanischen Münzen (Pennies, Dimes, Nickels) besser als jeder andere in unserer Familie und hat dagegen keine Ahnung von den deutschen Cent.

 

Wenn wir Theo (8) zu Fuß von der Schule abholen, dann dribbelt Tim auch schon seinen Basketball vor sich hin. Ebenso hat vor allem er Tendenzen, sich bei zehn Grad Celsius mit T-Shirts und Shorts zur Schule aufzumachen, und er macht seine Hausaufgaben auch schon mal nach dem Abendessen. Als wir in Deutschland waren, hat er im Bus verzweifelt nach dem Anschnallgurt gesucht – in amerikanischen Schulbussen herrscht Anschnallpflicht, und somit schnallt Tim sich jeden Tag zweimal an.

Als ich Theo und Tim von der Schule abgeholt hatte und wir alle im Auto saßen, entwickelte sich ein Streit zwischen den beiden über eine „Sachfrage“ (Star Wars: Welcher Clone Trooper hat wann, was gemacht …). Es ging eine Weile hin und her und dann hörte ich Tim ziemlich vorwurfsvoll sagen: „But Theo, you`re hurting my feelings.“ Theo verteidigte sich und versuchte klarzustellen, dass es sich um ein reines Sachproblem handelte. Ich war platt, als ich Tims Spruch gehört habe! Denn obwohl das sicherlich ein guter Ansatz für zwischenmenschliche Kommunikation ist, hatte ich so einen Spruch bei den Jungs noch nie gehört. Das hat er wohl in der Schule aufgeschnappt.

Er kennt sich inzwischen definitiv besser mit den amerikanischen Präsidenten aus als mit deutschen Politikern. Und als er Ole vor einigen Wochen fragte, ob der denn schon wisse, wie der amerikanische Präsident hieße, da verriet er stolz die Antwort und ich staunte: Branco Bama! So ist das, wenn man alles noch übers Gehör lernt. 🙂

Tims Lieblingsthemen im Moment sind Star Wars, Star Wars und Star Wars – was anderes gibt es nicht. Wenn er mit seinem Freund Sandor eine Verabredung hat, dann fachsimpeln sie stundenlang. Und wenn Gäste aus Deutschland kommen, dann empfängt Tim sie schon mit Star Wars-Buch unter den Arm geklemmt am Flughafen, und auf der Autofahrt nach Hause bekommt unser Besuch erst einmal eine Einweisung in die Saga.

THEO (8 Jahre)

 

Theo hatte am meisten Angst vor dem Umzug, ist dann aber sofort durchgestartet und seitdem nicht mehr zu bremsen. Er verschlingt englische und deutsche Bücher, schreibt auch schon ganz passabel und wird möglicherweise bald aus dem Hilfsprogramm ESL (English as a second language) entlassen, das in der Schule unterstützend für bilinguale Kids angeboten wird.
In Mathe nennt ihn seine Lehrerin „our math wizard “(„unseren Mathe-Zauberer“), und beim Bruchrechnen hilft er den anderen Kids in der Klasse – so sagte es uns jedenfalls seine Klassenlehrerin beim letzten Elternsprechtag. Er macht seine Hausaufgaben meist selbstständig und hilft auch schon Tim dabei. Er benutzt Englisch mit einer großen, unprätentiösen Selbstverständlichkeit, und Tim und er reden inzwischen mehr Englisch als Deutsch untereinander. Mit Ole, Paul und mir redet er fast nur Deutsch. Zwischendurch hat er bei mir auch immer auf Englisch angefangen, aber das hat er jetzt wohl „sortiert“.

 

Seine Freunde und er begrüßen sich mit „Hey, Dude …“ Da muss ich schon stutzen, weil das einfach ziemlich krass aus dem Mund eines 8-Jährigen klingt. Alles, was ihm gefällt, ist „awesome“ und wenn etwas nicht klappt, dann hören wir „darn“ – mit ziemlich amerikanischem, tief unter der Zunge gegurgeltem „r“. Das Wort findet man übrigens nur im „urban dictionary“, weil es eben ein Schimpfwort ist.

Theo hat sich in vielerlei Hinsicht angepasst: Er saut mit seinem Bleistift ziemlich auf den Arbeitsblättern in der Schule herum; Füller kennen die hier nicht im 3. Schuljahr. Und die Lehrkräfte lassen es einfach so durchgehen, während man ihm in Deutschland die Sachen wahrscheinlich um die Ohren hauen würde.

Er spielt in der Pause und nach der Schule „foursquare“, ein Ballspiel, das hier absolut bei allen beliebt ist. Wenn er zu Hause etwas falsch macht, dann jammert er und sagt immer: „I’m sorry, I want to be a good citizen.“ Da wusste ich zunächst mal gar nicht, was er damit meinte. Das hatte er auf keinen Fall von zuhause, also musste es von der Schule kommen. Und tatsächlich: In allen Schulen gibt es klare Verhaltenskodizes, was die Pflichten und Rechte eines guten Bürgers bzw. einer guten Bürgerin angeht. Es geht um Charakterbildung, die hier ganz pro-aktiv und offen „betrieben“ wird. Da heißt es dann: „Be a terrific person – someone to look up to and admire.“ Man braucht nur ein paar Meter in eine Schule hineinzugehen, und schon strahlen einem verschiedene Poster entgegen.

 

Theo hat sich auch dem Hygiene-Hype hundertprozentig angeschlossen. An seiner Zimmertür hat er ein Schild aufgehängt mit der Aufschrift: „Wash hands – Hände waschen.“ Und wenn Tim etwas essen will, bevor er sich die Hände gewaschen hat, dann brüllt er los: „Put it back. There is always germs on anything“. Da bekommt man fast einen Herzinfarkt. Insgesamt hat er die Idee mit den Verboten und Geboten sehr konkret umgesetzt und seine Zimmertür ist mit verschiedenen solcher Schilder vollgehängt (z. B. „Don’t scream“).

Seine Tischmanieren haben sich denen der amerikanischen Schulcafeteria angepasst: offener Mund und aufgestützte Ellenbogen. Aber so essen hier leider auch Erwachsene, wie wir bei unseren „formal dinners“ mit Marc Arbeitskollegen erfahren mussten. Das Irrste ist, dass Theo ein Stück Fleisch inzwischen auch zuhause auf die Gabel aufspießt und es dann rundherum ab isst, indem er die Gabel dabei dreht – na ja, da vergeht mir alles. Das hat er definitiv nicht von uns, sondern aus der Schulmensa. Dort gibt es aus Sicherheitsgründen (!) nämlich keine Messer, sondern eben nur die „spork“, eine Mischung aus „spoon“ und „fork“, also eine „Esshilfe“, mit der man löffeln kann, die aber vorne auch ein paar Zacken dran hat (als Gabelersatz) und seitlich einige kleine Mini-Häkchen (als Messerersatz). Was das Essen angeht, so liebt Theo Erdnussbutter-Marmeladen-Brote („Peanutbutter Jelly Sandwich“ oder nur kurz „PB&J“), die hier schon fast als gesundes, vollwertiges Essen durchgehen. Bei den Maßeinheiten lernt er in der Schule zwar beide Systeme und muss oft das eine in das andere umrechnen (z. B. Meter in inches/feet), aber ihm sind die amerikanischen imperialen Einheiten inzwischen vertrauter. Wenn ich von Metern spreche, fragt er mich: „Wie viel ist das in Meilen?“ – und dann muss ich wieder rechnen. Oder, wie bei einigen anderen Maßeinheiten, einfach zugeben, dass ich keine Ahnung habe (wie z.B. bei Quadratmetern in square feet).

Wer geht denn nun schon als Amerikaner durch von den Vieren?
Klare Antwort: KEINER! Gottseidank, denn das wäre ja mal ein Ding nach so kurzer Zeit. Wenn man die vier Kids zu einem verschmelzen würde, hätte man vielleicht eine Chance: Pauls Formbarkeit und damit seine Offenheit für alles (er war ja gerade erst zwei Jahre alt, als wir hier ankamen), Oles Freude am Nachsprechen und Mitmachen (z. B. beim Pledge of Allegiance), Tims ziemlich authentischen amerikanischen Akzent und Theos große Bereitschaft, sich an Regeln zu halten und diese gegenüber anderen auch durchzusetzen – aber man kann die vier Jungs ja Gottseidank nicht zu einem verschmelzen, sondern sie haben zum Glück alle ihre ganz individuellen Eigenschaften.

 

Wir haben also vier kleine bzw. mittelgroße Menschen, die die eine oder andere amerikanische „Angewohnheit“ haben, aber auf der anderen Seite auch viel deutscher geworden sind, als sie es vor unserer Reise waren. Ihr Bewusstsein, dass sie anders sind als der Mainstream hier (da mussten sie alle durch am Anfang, als sie kein Wort verstanden haben), dass sie auch jetzt schneller und öfter auffallen, hat sie auch für das sensibilisiert, was sie so anders macht – eben ihr „Deutschsein“. Und zum anderen ist da natürlich ihre Muttersprache (bzw. „native language“, wie es hier politisch korrekt heißt), die sie inzwischen auch als Geheimsprache einsetzen können.

Aber es gibt auch Bereiche, wo wirklich zwei Welten aufeinander prallen: Ein großes Reizthema bei uns ist der Eid auf die amerikanische Flagge („Pledge of Allegiance“), den alle unsere Kids hier jeden Morgen vor Beginn des Unterrichts in der Schule aufsagen müssen. Wir hatten schon ein „Handgemenge“ am Frühstückstisch, weil Paul und Ole den Spruch so gerne zum Besten geben wollten, aber Theo total an die Decke gegangen ist. Da keiner nachgeben wollte, flogen dann die Fäuste über den Tisch. Aber im Ernst, es passiert immer wieder, dass sich Theo und Tim total genervt nach der Schule darüber beklagen, dass die Amerikaner und Amerikanerinnen so stolz auf ihr Land sind. Tim findet dann öfter wenig schmeichelhafte Schimpfwörter für die USA, ihre Bewohner/innen und ihren übermächtigen Stolz. Bei aller „political correctness“ und Diversität in anderen Bereichen, steht man im Bereich „Nationalstolz“ vor einer ziemlich geschlossenen, undurchdringlichen Wand. Patriotismus kennt hier keine Grenzen, gehört zum täglichen Leben. Da muss man zunächst vielleicht schlucken, aber damit muss man leben. Das ist „Amerika pur“ – gehört hier mit zur nationalen Identität.

 

Häufig fragen die beiden sich und mich, warum die Deutschen eigentlich nicht so stolz auf ihr Land sind – ja, das tun sie tatsächlich immer wieder! Und dann weiß ich keine richtige Antwort (warum eigentlich nicht?). Bei Theo ist diese Abwehrhaltung am ausgeprägtesten, und er kämpft am meisten damit. Oft erzählt er mir unter Tränen, dass er „diesen blöden Pledge of Allegiance“ nicht mitmachen will“, aber muss, „weil ich sonst zum principal muss.“ Das geht ihm wirklich nahe, weil er, wie er sagt, nicht auf die amerikanische Flagge schwören will. Tim, unser „sneaker“, fühlt zwar ähnlich wie Theo, hat aber ganz einfache Strategien aus dem Dilemma gefunden. Er hat uns verraten, dass er bei der Textstelle „to the flag of the USA“ immer „to the flag of Germany“ flüstert – so einfach ist das. Außerdem findet man immer mal wieder deutsche Flaggen in seine Arbeitsblätter hinein gemalt. Oder er malt Gegenstände, Zahlen oder sonstige Abbildungen auf den Arbeitsblättern geschickt mit den drei Farben unserer deutschen Flagge aus, selbst wenn das Thema ein uramerikanisches ist (wie z. B. die amerikanischen Präsidenten). Dann hat man eben ein „Mischbild“ von beiden Ländern und Kulturen 🙂 . Auch Ole und Paul malen öfter die deutsche Flagge, was wirklich wichtig ist bei der Allgegenwärtigkeit der Stars and Stripes im Leben hier.

Und immer mal wieder, wenn die Kids gestresst sind, beklagt sich einer: „Ich will zurück nach Deutschland.“ Dann fallen mindestens zwei direkt mit ein: „Ich auch.“ – „Ich auch.“ Also, wir haben noch ziemlich deutsche Kids, die einige amerikanische Angewohnheiten haben, sich aber selber bewusst als Deutsche einsortieren.

Marc und ich

Und wie sieht es bei Marc und mir aus? Ganz ehrlich, wir sind ja schon ziemlich fertig geformt und 40 Jahre kann man nicht einfach so wegwischen. Zudem bin ich ja gar nicht richtig in der Gesellschaft verankert als „staying-at-home mom“ und muss mich daher nicht so stark anpassen wie unsere Kinder – und vielleicht auch wie Marc. Aber es gibt dennoch einige Dinge, die wir zu schätzen gelernt und die wir übernommen haben.

Bei Marc gibt es nicht so viel zu berichten – jedenfalls fiel ihm selbst auch nicht so viel ein. Aber drei Dinge sind erwähnenswert: Er ist definitiv dem Coffee-to-go verfallen, d. h. er fährt morgens vor dem Büro noch schnell beim „Greenberrys“ vorbei und holt sich dort einen „Café latte“, den er dann mit ins Auto und ins Büro nimmt. Jede zweite Person in der Stadt kommt einem mit einem Getränk in der Hand entgegen. Und da die Amerikaner/innen sehr praktisch veranlagt sind, gibt es überall die sogenannten „cupholder“: Am Kinderwagen, am Einkaufswagen, im Auto (direkt zigfach) usw. Hier muss man schon Glück haben, wenn man einen Kaffee in einer echten Porzellantasse bekommt, denn oft gibt es nur die Pappbecher. Es wäre einmal interessant auszurechnen, wie viele die hier von diesen cups jeden Tag in den Müll schmeißen – oder wie viele auch wir davon hier schon so weggeworfen haben …

Marc hat sich außerdem zu einem guten Grillmaster entwickelt, der uns sogar im Schnee draußen auf unserem Gasgrill dicke, saftige Rindersteaks macht. Die sind echt lecker und für unsere Kids ist das auch immer ein Festmahl.

 

Ja, und dann macht Marc im Moment seinen Flugschein. Hier ist das gar nicht so besonders, sondern schon fast selbstverständlich. So ein Flugschein ist in einem so großen Land wie den USA hilfreich, z. B. um am Wochenende „mal eben“ seine Kids am College zu besuchen. Für den Weg braucht man dann anstatt von vier Stunden eben nur eine Stunde! Warten wir ab, wann er seinen ersten Trip zur Freiheitsstatue macht 🙂 .

Bei mir gibt es da zum einen die vielen kleinen, offensichtlichen Anpassungen: Ich habe mich daran gewöhnt, nur noch auf Straßen zu joggen, und wundere mich auch nicht mehr, wenn mir die Füchse von links nach rechts über den Weg laufen (und eben nicht die Katzen) oder mir die Rehe zugucken. Ich sitze zu unendlich vielen Taxidiensten viel länger im Auto als in Deutschland. Ich habe ein paar kniehohe Gummistiefel im Schrank, wenn es mal wieder tagelang am Stück schüttet. Und im Winter laufe auch ich mit einem unförmigen, gesteppten Daunenmantel herum wie alle Welt hier (sieht wie eine Bettdecke in Schwarz aus). Die ganze Familie sieht im Winter so aus, und der Grund dafür ist einfach: Diese gigantischen Jacken halten den scharfen Wind und die Kälte ab, soviel haben wir gelernt (und nehmen dafür auch die Sprüche einiger Besucher/innen in Kauf, die uns damit aufziehen). Ich habe mein Tempo beim Einkaufen ein bisschen gedrosselt, damit ich den Leuten nicht dauernd in ihren persönlichen Bereich reinlaufe, und sage jetzt auch immer „Sorry“ und „Excuse me“, wenn es dann doch mal enger wird. Mit dem amerikanischen Personal an den Kassen (Kassieren und Packen) kann ich mich aber ganz klar nicht anfreunden (zu lahm, unökonomisch, chaotisch). Da scanne ich lieber alles selber im self-scan und kann dann einfach so vorbeimarschieren an den ganzen Schlangen.

 

Für mich sind die Coffeeshops eine angenehme Entdeckung, die hier mehr oder weniger fester Teil meines Alltags geworden ist (je nachdem, wie viel Zeit gerade übrig ist). Ob nun das „Greenberrys“ oder das „Drips“ – alle haben sie eins gemeinsam: Sie sind ein sehr entspannter Treffpunkt für bunt gemischte Leute, die das Café für sehr unterschiedliche Zwecke nutzen. Hier treffen sich Mütter mit und ohne Kids, verabreden sich Freunde, begegnen sich Fremde, halten Kollegen Geschäftstreffen ab, machen Firmen ihre Vorstellungsgespräche … Viele kommen aber auch alleine, lesen die Zeitung oder ein Buch oder arbeiten an ihrem Laptop – und das alles sehr friedlich und ruhig. Im Hintergrund läuft nette, unaufdringliche Musik und die Stimmung ist einfach entspannt – „mellow“ würde man hier wohl sagen.

Im Gegensatz zum Restaurant kann man sich hier über Stunden an einem Tee oder Kakao „festhalten“ und wird komplett in Ruhe gelassen, weil man die Getränke bzw. das Essen selbst an einer Theke kaufen muss und nicht ständig von einer Kellnerin/einem Kellner genervt wird. Wenn ich zuhause wegkann (morgens oder abends, wenn Marc da ist), dann gehe ich oft mit Buch oder Laptop ins Café, trinke meine heiße Schokolade und esse meine geliebten scones (ein schwach gesüßtes „Brötchen“ mit drei Ecken, ursprünglich schottisch), lausche einfach den Gesprächen der anderen (endlich mal Englisch!), lese oder arbeite an meinen Briefen und genieße das Flair dieser Cafés.

Und dann muss ich mich jetzt „outen“: Ja, ich gehe gerne zur Pediküre (ihr habt es bereits geahnt ;-)), denn es ist einfach nett, entspannend und gehört zu dem harmlosen, unbeschwerten Teil meines Lebens, den ich als Ausgleich brauche. Es ist super spannend dort, man bekommt ein Stück amerikanische Kultur in Reinform geboten und lernt ziemlich viel über „amerikanisches Frauenleben“ (zumindest das der weißen Mittelschicht). Nebenbei beschert es einem auch noch ansehnliche Füße – als Alibi lade ich unsere Gäste ein (davon haben wir ja immer genug), aber ich würde es auch ohne Gäste machen!

Und dann sind da noch ein paar andere „Annehmlichkeiten“, die ich „mitnehme“, wie z. B. „tanken lassen“ (eher New Jersey-isch), sonntags oder abends einkaufen gehen und unseren Kids Gasballons zum Geburtstag zu schenken (die schweben wunderbar am Stuhl vom Geburtstagskind und zaubern auch noch Tage später glückliches Grinsen aufs Kindergesicht).

In einem Punkt bin ich allerdings eindeutig viel deutscher geworden (auch den kennt ihr schon): Ich liebe deutsche Elektro-„Markenware“ und freue mich jeden Tag über meinen Siemens-Staubsauger und meine Siemens-Spülmaschine, wie ich es vor zwei Jahren noch nicht für möglich gehalten hätte. Das Drama „amerikanische Toplader-Waschmaschine“ vor einem Jahr war mir eine Lehre – also, wenn es hakt, dann lieber sofort mehr Geld anlegen, als sich monatelang quälen (und dreckige, klatschnasse Wäsche mit den Händen auswringen).

Und worin sind wir so richtig unamerikanisch?
Wir kauen weder Kaugummi noch laufen wir ausschließlich in „trainers“ (Turnschuhen) durch die Gegend – da kaufe ich lieber gute Kinderschuhe in Deutschland und bringe sie ins Land. Auch das TV läuft bei uns im Haus nicht von morgens bis abends, denn mich nerven diese dämlichen Fernseher ungemein, die hier überall ständig in Betrieb sind und zum Englischlernen zumindest am Anfang überhaupt nicht taugen. Was den Verzehr von Fastfood angeht, so sind wir hier verrückterweise enthaltsamer als in Deutschland – Burger King und Co. sind zumindest hier in der Gegend einfach zum Abgewöhnen, grelles Neonlicht, super ungemütlich.

 

Und dicker sind wir auch noch nicht geworden – sorry, keine XXL-Stories von uns. Die Kids haben es natürlich besser als die Großen, denn sie „thinen out“, wie die Kinderärztin sagte, weil sie ja noch wachsen. Aber ich ernähre mich größtenteils wie zu Hause und esse wirklich weniger Schokolade, weil die hier so schlecht schmeckt.

Um es einmal ganz klar zu sagen: Genauso, wie ich Deutsche mit großer Treffsicherheit schon von Weitem in Morristown ausmachen kann, so sicher sind wir hier auf einen Blick als nicht-amerikanische Familie zu erkennen (wenn auch nicht als Frisch-Zugezogene, dafür sind wir im Verhalten zu angepasst). Bei aller Bereitschaft zur Anpassung gibt es einfach Grenzen. Nein, wir tragen keine Flip-Flops, T-Shirts, Shorts und Sonnenbrillen bei fünf Grad Außentemperatur. Unsere Kids haben weiterhin Streifenpullis an (ganz normal für deutsche Verhältnisse), die für amerikanische Augen „European“ aussehen, wie uns schon von verschiedenen Leuten gesagt wurde.

Ja, und dann gibt es da noch die Sache mit meinen Haaren. Meine Haare (viele, lockig, ziemlich wild) passen so gar nicht zum Trend, dem sehr viele (weiße) Frauen hier folgen: lang, brünett, glatt – mit einer Riesen-Sonnenbrille mittendrin, die die Haare zurückhält. Gelockte Haare sieht man hier selten, und wenn, dann mit Gel im Zaum gehalten. Wie Amerikaner/innen meine Haare wahrnehmen, wurde mir vor einigen Wochen klar: Theos Schule hatte „Spirit Week“, eine Woche, bei der jeder Tag unter einem anderen Motto steht, z. B. „Mismatch Day“ (anziehen, was überhaupt nicht zusammen passt) oder eben auch „Crazy Hair Day“ (total verrückte Frisuren). Die Kids kamen also mit bunten bzw. irgendwie gestylten Haaren zur Schule. Beim Pick-up meinte dann ein amerikanischer Vater freundlich – halb scherzhaft, halb ernst gemeint – zu mir, dass ich ja jeden Tag „Crazy Hair Day“ hätte. Jetzt weiß ich Bescheid 😉 .

 

Also, wer sich mit mir sehen lässt, wird schon von Weitem als „non-american“ identifiziert, was aber nicht weiter schlimm ist, weil die Leute einen hier trotzdem nicht ausgrenzen und einem im Zweifelsfall viel eher mit Neugierde als mit Zurückhaltung oder gar Ablehnung begegnen.

Wir sind eindeutig woanders
Die geografische Lage und die Zeitverschiebung sind ja schon für manchen Erwachsenen nicht so ganz einfach zu verstehen. Wie muss das erst für Kinder sein? Aber unsere Kinder schlagen sich wacker und versuchen konstant, sich einen Reim drauf zu machen. Theo und Tim gelingt das schon sehr gut. Sie wissen, wo Amerika bzw. Deutschland liegt und dass ihre Freunde schon Schule aus haben, wenn sie aufstehen (wie gemein!). Und sie wissen auch, dass ihre deutschen Freunde bereits ins Bett müssen, wenn sie aus der Schule kommen (ha, jetzt haben sie es besser, aber anrufen können sie sie leider nicht mehr). Auch Ole wird immer besser. Er malt fleißig Weltkarten in der preschool und weiß auch schon, wie das Flugzeug von Deutschland nach hier fliegt.

 

Paul versteht das alles noch nicht so richtig. Seine Standardaussage, die er immer einstreut, wenn wir von Deutschland reden ist: „In Deutschland ist jetzt tiefe, tiefe Nacht … oder?“ – und damit hat er sogar eine recht hohe Trefferquote. Und wenn ein Gast, den Paul lange nicht gesehen hat, bei uns schläft und ich Paul sage, dass derjenige nicht mit ihm spielen kann, weil er schon/noch schläft, dann fragt er direkt nach: „Ist der jetzt wieder in Deutschland?“ Also, wie ihr seht, seid ihr ganz schöne Faulpelze, die die ganze Zeit nur schlafen – nach Pauls jetzigem Weltbild jedenfalls 😉

Wenn Paul mit Oma oder Opa telefoniert, fragt er lieber am Anfang mal eben nach: „Bist du hier?“ oder eben „Bist du in Deutschland?“ Nur nebenbei, Paul ist damit nicht allein: Wenn ich Freunde in Deutschland anrufe, die ich lange nicht gesprochen habe, ist genau das immer deren erste Frage: „Bist du in Deutschland?“ – irgendwie bin ich mental für die meisten einfach zu weit weg, als dass ich an einem total normalen Tag auf einmal blitzsauber am Telefon zu hören bin, genauso wie der Nachbarin/der Nachbar von nebenan – da muss ich immer schmunzeln.

Bei Paul merkt man immer wieder, wie es oben bei ihm rattert und wie er versucht, sich einen Reim auf die Dinge zu machen. Ab und zu „spuckt“ er dann plötzlich wieder eine seiner neuen Erkenntnisse aus, wie diese hier: „Wir haben drei Häuser. Eins zuhause, eins hier und eins in Deutschland.“ Aber das geht schon in Ordnung, wenn man bedenkt, dass er am ersten Tag bei unseren Besuchen in Deutschland verzweifelt im Hausflur steht und „ich muss Pipi“ ruft, weil er sich einfach nicht mehr daran erinnern kann, welche Tür zur Toilette führt.

Tim hat zwar die Geographie und die Zeitverschiebung im Griff, aber macht mit seinen sieben Jahren ab und zu einen Check-up, wen es denn noch so alles dort drüben an Verwandten gibt. Er geht dann in aller Ruhe alle „älteren“ Leute in der Familie durch: „Lebt Opa Paul noch?“ „Ja.“ „Lebt Opa Hans-Joachim noch?“ „Ja.“ „Lebt Oma Karin noch?“ „JA“ (um Himmelswillen, wie kann er so cool danach fragen?!) „Lebt Uroma Lotte noch?“ „NEIN, leider.“

Und wenn die vier mal wieder über die Welt, ihre Länder und Kontinente fachsimpeln und sich dann in die Wolle bekommen, welches Land wie weit weg ist oder welches am größten ist, dann meldet sich Paul bei dem ganzen Chaos auch noch lautstark zu Wort und verkündet im Brustton der Überzeugung: „Deutschland ist der größte Kontinent der Erde.“ – Jawolla!