Leseecke im Park mitten in New York

Lesen lernen – angucken, merken, lesen

Von flashcards und sight words, warum das Wort „on“ ein Schweinchen ist und A nicht gleich A. Und vom erfreulich hohen Stellenwert der Bücher in der Schule.

 

 

Unser Aha-Erlebnis
Seit einem halben Jahr versuchen wir, dem Lesen von Tim (6), 1. Schuljahr, auf die Sprünge zu helfen. Bisher mit wenig Erfolg. Also, wie lernen amerikanische Kinder lesen? Von Theo kannten wir bisher nur das sehr systematische Vorgehen an der Grundschule in Deutschland: Die Buchstaben werden in einer bestimmten Reihenfolge eingeführt, schreiben geübt, dann zu kleinen Wörtern zusammengesetzt und lesen geübt. In Deutschland kommen Kinder also meist erst in der Schule strukturiert mit Buchstaben in Berührung, zumindest was das Schreiben und Lesen angeht.

Lesen lernen geht hier anders
In Amerika läuft das mit dem Lesen komplett anders. Unter anderem lernen die Kids hier bereits in der preschool (3 bis 5 Jahre) und im „kindergarten“ (Vorschulklasse) kleine Wörter erkennen und „lesen“, indem sie sich den gesamten Schriftzug einprägen – und das, ohne die Buchstaben überhaupt zu kennen. Diese Wörter, die durch das reine Ansehen erkannt werden, heißen hier „sight words“, also „Sichtwörter“. Dazu gehören solche Wörter, die besonders häufig vorkommen und von denen sich viele nicht an die normalen Ausspracheregeln halten. Die müssen die Kinder hier auswendig lernen. Dazu haben viele auch sogenannte „flashcards“, also vorgefertigte „Vokabelkarten“ in Kartenspiel-Größe. Hier eine kleine Auswahl an sight words, die bei uns im ersten Schuljahr sicher gekonnt werden müssen:

the, of, and, to, you, that, for,
was, on, as, with, his, they, I, at,
be, this, from, have, one, by,
went, look, got, come, too, ball,
day, did, yes …

Ich habe bisher mit Tim versucht, diese Wörter durch Zusammensetzen der Laute (Buchstaben) zu lesen, eben so wie man es im Deutschen macht: M-A-M-A = Mama. Das hat aber hinten und vorne nicht hingehauen und eine Menge Frust auf beiden Seiten hervorgebracht. Jetzt sind wir auf dem Elternsprechtag mit Wort-Listen und Ideen versorgt worden, wie man diese Wörter spielerisch üben kann (z. B. mit Bingo). Das funktioniert besser.

Meet the sight words
Wir waren mit unserem Latein bei Tim ziemlich am Ende, was das sight words-Lernen angeht. Also probierten wir es mit einer DVD „Meet the Sight Words“ (auch wieder mit nationalen Auszeichnungen überschüttet, Altersempfehlung ab 16 Monaten), einem „Sichtwörter“-Programm: Die Buchstaben sind mit Gesichtern, Armen und Beinen ausgestattet und haben dann gemeinsam eine Menge Spaß. So wird aus „on“ ein kleines Schweinchen: Das „o“ ist ein Kopf (mit Extra-Gesicht und kleinen Öhrchen) und das „n“ ist der Körper (mit kleinem extra Schwänzchen) hinten dran. Das „it“ ist ein Straßenbauarbeiter mit seinem Presslufthammer: Das „i“ ist der Bauarbeiter, es (er) hat immerhin schon einen Kopf, fehlen nur noch die Hände, die sich beim Querstrich vom „t“ einhaken, das unten dann einen Extra-Presslufthammer hat. Mal sehen, ob das etwas hilft. Paul (3) erkennt inzwischen auch schon einige Wörter (zumindest bei ihm scheint es zu funktionieren).

A ist nicht gleich A
Eine weitere Schwierigkeit für Tim beim Lesen: Das ABC („ei, bi, si“) wird den Kids hier von klein an eingehämmert und Tim muss nun lernen, dass die Buchstaben in den Wörtern eben anders ausgesprochen werden als beim Aufsagen des ABCs. Das ist im Deutschen ja bei den Konsonanten auch so. Aber bei den Vokalen ist es für Anfänger/innen im Englischen eine wirkliche Herausforderung zu erkennen, wie man z. B. das „a“ ausspricht. Allein für „a“ gibt es vier verschiedene Aussprachen: cake [ei], cap [æ] car [ɑː], eat (lautloses a). Als Tipp gibt es hier den Spruch: „The „e“ at the end makes the vowel say its name“ – das hilft z. B. bei Wörtern wie name oder phone (das „a“ bzw. „o“ wird ausgesprochen, wie man es beim „ABC“ auspricht).

Ähnliches gilt für die anderen Vokale und so werden ganz kleine Wörter, wie z. B. „it“ oder „I am“ zu großen Stolper- und Frustfallen für Tim. Selbst ich bleibe bei verschiedenen alltäglichen Wörtern immer wieder an den Vokalen hängen, z. B. „antibiotics“ (na, wer von euch weiß spontan, wie die diversen „i “ hier ausgesprochen werden? Kleiner Tipp: Jedes hat einen anderen Laut! – Lösung: [æntibaiɔtiks].
Aber gut – wir üben jetzt zuerst mal die „sight words“ und bleiben am Ball. Ich hoffe, wir können die Neugierde und die Begeisterung für das Schreiben und Lesen bei Tim wieder wecken.

34 Lesestufen und „Just Right Books“
Allein bis zum ersten Schuljahr unterscheiden sie hier 16 (in Worten: sechzehn!) verschiedene Leselevel, insgesamt gibt es 34! Selbst für die absoluten Leseanfänger/innen gibt es schon passende Bücher und jeden Tag kommt im Rucksack ein neues bei Tim mit nach Hause: „Reading time“ gehört jeden Tag zu den Hausaufgaben. Bei Theo muss ich das sogar gegenzeichnen und er muss die Liste am Ende abgeben. Tim hat jetzt einen 5-Finger-Trick gelernt, um ein „just right book“ in der Bibliothek zu finden. Er macht eine Hand zur Faust, schlägt die zweite Seite des Buchs auf und liest laut vor. Für jedes Wort, das er nicht lesen kann, streckt er einen Finger aus. Bis zu vier gestreckte Fingern bei einer Seite sind in Ordnung – dann passt das Buch. Wenn alle Finger gerade sind, dann ist das Buch zu schwierig. Wenn die Faust noch geschlossen ist, dann ist das Buch zu leicht.

Bücher, Bücher und noch mehr Bücher
Es wird wirklich viel getan, damit alle Kinder schon ganz früh Zugang zu Büchern bekommen. Einmal pro Woche steht „library“ auf dem Stundenplan, es gibt regelmäßige Besuche von einem Bibliothekmobil auf dem Schulhof, ab und zu machen Kinderbuchautor/innen Lesungen in der Schule und einmal im Jahr findet die so genannte „literacy night“ statt, zu der man mit den Kindern eingeladen ist (alle Kinder dürfen sich ein Buch aussuchen und lesen in der Bibliothek, während die Eltern in verschiedenen Räumen Tipps bekommen, wie sie das Lesen ihrer Kinder unterstützen können (Hut ab – alles sehr fortschrittlich).

Die Schulkinder bekommen immer wieder als Hausaufgabe auf, Geschichten bzw. „Bücher“ zu schreiben. Selbst Tim hatte zuletzt eine „Publishing Party“, bei der er sehr stolz sein selbstgestaltetes Buch „Making a pizza“ vor den Eltern und seinen Klassenkamerad/innen vorgelesen hat.