Die amerikanischen moms würden sich wundern

Schulchaos Deutschland

Während der ersten Tage in Deutschland habe ich eine ganze Horde von meinen preschool moms im Schlepptau – fühlt sich jedenfalls so an. Jeder Versuch, sie abzuschütteln misslingt, sie verfolgen mich im Kopf auf Schritt und Tritt, und ich überlege bei vielen Situationen, was sie wohl jetzt denken oder sagen würden – es nervt.

Deutschland aus der Sicht amerikanischer Mütter würde sich wohl etwa so anfühlen:
Schon auf dem Schulweg bekommen meine amerikanischen Mütter ihren Mund nicht mehr zu. Überall sind Kinder unter zehn Jahren ohne Eltern auf den Straßen unterwegs – manchmal in Gruppen, manchmal auch allein. Meine „Begleiterinnen“ bleiben ganz nah bei mir und sind fürs Erste sprach- und fassungslos.

Dann kommen wir auf dem Schulgelände an, die Kinder laufen wild rufend durcheinander, fröhlich bis wild, einige stellen Beinchen, andere fangen wieder andere an den Kapuzen, die Schulhofaufsicht ist nicht in Sicht: aufgeregtes Getuschel hinter mir – ich höre etwas von rough housing, not safe, und ich stimme irgendwie zu. Ja doch, da ist die Aufsicht, zwei Kinder berichten ihr, dass sich zwei andere Kinder gerade prügeln – die Aufsicht winkt ab („das machen die jeden Tag“), da kommen gerade andere Kinder mit ihrem Fahrrad über den Schulhof gebraust (vielleicht aus der zweiten Klasse?). Offenes Staunen, einige missbilligende Worte – viel zu gefährlich. Wo sind bloß all die Eltern zu diesen Kindern? Ich ertappe mich, wie ich auch fast die Kamera zücke, um ein Foto zu machen. Ein Gewusel mit hohem Lärmpegel. Ein Kind ist am Boden, wird von anderen verprügelt – ich mische mich ein. „Der will das so!“, lautet die Verteidigung. Himmel, ist das der Wilde Westen hier? Meine New Jersey moms pendeln zwischen Ungläubigkeit und Entgeisterung, stehen unschlüssig auf dem Schulhof herum und beobachten alles ganz genau.

Nun bringen wir Tim zu seiner Klasse (die Klasse, in die er in einem Jahr nach unserer endgültigen Rückkehr hineinkommen wird). Er darf dieses Jahr für die letzte Schulwoche schon zum „Schnuppern“ kommen. Die Schultür ist natürlich für alle offen, die moms tauschen ungläubige Blicke aus! Eltern, Kindern, Lehrer/innen, Großeltern … alle gehen hier ein und aus, wie es passt (während die Schultüre in Morristown verschlossen ist und man nur nach Klingeln und Blickkontakt mit der Sekretärin reingelassen wird).

Im Schulgebäude selbst wird es auch nicht viel besser – laut und viel Bewegung – hier ist nichts mit „single file“ und an der Wand entlang. In Tims Klasse tobt der Bär. Drei Jungs veranstalten gerade einen Ringkampf, keine Lehrperson weit und breit, aber die anderen scheinen gar nicht irritiert zu sein. Tim sucht nach der Flagge (die natürlich nicht da ist) und wirkt in dem ganzen Gewusel ziemlich verloren. Ich wechsle einige Worte mit der Klassenlehrerin, die ihn herzlich begrüßt und ihm dann einen Platz zuweist. Er ist inzwischen umringt von den anderen Kindern, die ihn freundlich begrüßen. Einige kennt er ja noch vom Kindergarten. Ähnliches Gefühl, wie vor eineinhalb Jahren, als wir Tim das erste Mal in der amerikanischen Schule abgeliefert haben. Vorteil hier: Er versteht die Sprache. Also viel Spaß und bis gleich.

Die anderen moms warten auf dem Schulhof auf mich und gucken mich fragend-forschend an – für sie steht fest, dass ihre Kinder NIEMALS auf diese Schule gehen werden. Aber es wird ja wohl noch andere hier geben? Vielleicht Privatschulen, wo etwas mehr Disziplin herrscht? Und ich frage mich, ob sich hier in den letzten eineinhalb Jahren so viel geändert hat, oder ob das immer schon so war und es nur an mir liegt. Oder vielleicht beides?

Brötchen und Bild-Zeitung
Dann geht es zum Einkaufen. „Meine“ moms rümpfen die Nasen, es riecht z. T. ziemlich verschwitzt. Und als sie an der Kasse den warmen Atem der nächsten Kundin im Nacken spüren, wird es ihnen zu bunt. Mir auch – ich lasse die ungeduldige Frau vor und habe Ruhe. War einfach. Mit offenem Mund staunen sie über die Schnelligkeit der Kassiererin. Ich habe keine Zeit dafür und packe meinen Einkauf lieber schnell ein.

In der Bäckerei gibt es angewiderte Blicke, als die Brötchentüte auf dem entblößten Pin-up Girl der „Bild“ landet: „Die werden wir nicht essen, soviel steht mal fest. Wie gut, dass die Kinder nicht hier sind. Hier herrschen ja Sodom und Gomorra!“…

Beim Spaziergang im Stadtpark treffen unsere Kids – fröhlich lärmend und in ihrem Element – auf einen Bullterrier. Ich bin zu weit weg, und auch der Hundebesitzer, ziemlich milchgesichtig, ist nur in Ferne zu sehen. Er trägt direkt zwei Metallketten um den Hals – zumindest eine davon gehört dem Hund. Die moms sind hinter dem nächsten Baum in Deckung gegangen, verstört, wie so ein Tier hier frei herumtraben kann. Es ist gutgegangen, aber ich bin auch sauer, dass einem so etwas in einem öffentlichen Park passieren kann. Hat diese Hunderasse nicht sogar Maulkorbpflicht?

 

Abliefern von Theo und Tim im Feriencamp: Hier darf jedes Kind sein Taschenmesser mitnehmen – Regeln zur Benutzung gibt es bis dahin noch keine. Ob die zwei Leiter das wirklich im Griff haben? Als ich die Jungs abhole, fange ich einige der Kids vor dem Gelände ab (die sind ca. fünf bis sechs Jahre alt). Dass sie verschwunden waren, war noch gar nicht weiter aufgefallen. Mit verschränkten Armen und missbilligendem Kopfschütteln empfängt mich die mom-Gang – wie kann ich als gute Mutter da meine Kids abgeben? Wie schnell kann da was passieren? Und irgendwie muss ich ihnen wieder Recht geben …

Irgendwie scheint die Natur in Deutschland zwar gemäßigter zu sein als in New Jersey, aber der Umgangston kommt mir definitiv roher und ungehobelter vor. In Amerika ist dagegen die Natur wild und unvorhersehbar, aber es gibt mehr Sitten und Höflichkeit im Alltag (jedenfalls fühlt sich das im Moment so an).

Speedo-Hosen und Sammelkabine
Unser Besuch im Schwimmbad ist für unsere Kids ein Highlight, nach den langen Monaten ohne Schwimmen. Das Problem ist, dass es so voll ist, dass ich die Kids nicht alle im Blick halten kann. Und da es in Deutschland definitiv nicht so viele Bademeister/innen gibt wie in New Jersey im Pool, ist mir das alles zu heikel und wir gehen bald wieder raus. Mein amerikanisches Gefolge drückt sich an den Glasscheiben die Nasen platt – sie wissen vor lauter hautenger „Speedo-Hosen“ nicht, wohin sie gucken sollen. Wieso hat hier kein Mann eine vernünftige Badehose an? Und noch nicht mal der Schwimmlehrer!

In der Sammelumkleidekabine, wo ich mich mit den Jungs umziehe, herrscht Hochbetrieb. Ein Vater, der seine Tochter vom Schwimmkurs abholen will, lässt sich nur sehr schwer davon überzeugen, doch mal eine Minute kurz vor der Tür zu warten, bis ich zumindest die Unterwäsche drüber habe. Die moms sind der Ohnmacht nahe, schlimm genug, dass ich mich mit den Jungs umziehe und auch noch andere weibliche Wesen anwesend sind – aber dann noch der Vater! Es reicht – sie haben genug gesehen.

Nein, hierhin werden sie auf keinen Fall mit ihren Familien ziehen. Sie wollen nur noch eins – nach Hause!