Summer Streets in New York

Vom Glück, mal ganz allein zu sein, und von der völlig neuen Sicht auf New York City. Warum „Irene“ meine Urlaubspläne über den Haufen geworfen hat und wieso ich lerne, blitzschnell Dinge aus dem Kühlschrank zu nehmen. Und wer „mit mir heiraten will“.

 
Fliegender Wechsel
Marc und ich machen fliegenden Wechsel: Er kommt nach Deutschland und ich mache mich schon auf nach New Jersey – wir treffen uns am Flughafen Newark zum gemeinsamen Mittagessen und allgemeinen Schlüsseltausch.

Alleinsein, NYC und mein erster Ü30km-Lauf

Zwei Wochen nur für mich! Mein „Ferienprogramm“: Laufen mit Sightseeing, Freunde treffen – grandiose Aussichten. Am Anfang läuft alles nach Plan: entspannter Flug, nur lesen und Filme gucken. Am Flughafen Newark begrüßt mich eine Flughafenangestellte an der „Schnittstelle“ zur Außenwelt: „Welcome home“! Und genau so fühlt es sich auch an – schön, wieder da zu sein! Gut gelaunt mit „Frappuccino“ im cupholder geht´s im Honda zur Carton Road. Vertraute Hitze und endlich wieder das Zirpen der Grillen.

Ich kann es kaum glauben:

  • Niemand will morgens um sieben Uhr von mir wissen, wie viele Stunden es noch bis zu seinem nächsten Geburtstag sind.
  • Kein Streit beim Abendessen, weil der andere mal wieder gemeinerweise mehr Löcher im Käse hat.
  • Die Küche bleibt öfter kalt.
  • Es ist kein einziger Legostein weit und breit zu sehen!
  • Ich muss mein „Süß“ nicht verstecken.
  • Ich brauche statt fünf Gebisse und 100 Finger- und Fußnägel nur meine eigenen pflegen.
  • Ich mache quasi nichts im Haushalt und es sieht trotzdem immer top aufgeräumt aus.
  • Ich kaufe nur ein, was MIR schmeckt und das direkt für zwei Wochen – trotzdem ist noch der halbe Einkaufswagen leer.
  • Die Wasch- und Spülmaschine werden einfach nicht voll.

Das ist schon was für mich – ich muss am Anfang total oft seufzen – Stille im Haus – purer Luxus.

Dann kommt aber doch wieder eine kurze Eingewöhnungsphase: Die Hitze haut mich beim Laufen um, es ist viel bergiger als in Deutschland, und statt Hundehaufen und Nacktschnecken muss ich mich erst mal wieder an die 40 Meilen schnellen Autos gewöhnen, die mit nur einem Meter Abstand an mir vorbeirasen. Ein Unwetter überrascht mich, ich rette mich ins nächste Gebäude, aber auch nach 45 Minuten gibt es keine Besserung. Ich rufe eine Freundin an, die mich mit dem Auto dort abholt – die Blitze schlagen immer noch ein, nur über Umwege kommen wir nach Hause (einige Straßen sind schon wegen Überflutung unpassierbar) – ich hatte ganz vergessen, dass hier öfter mal kurz die Welt untergeht.

Stimmen von Zuhause

Marc und Vitoria schlagen sich tapfer zuhause. Ich freue mich unheimlich über Kinderchaos am Telefon – tut gut, die Kids zu hören, aber eben NUR zu hören – und nach dem Auflegen wieder die absolute Ruhe zu genießen.

Ü30K

Mein erster Lauf über 30 Kilometer geht immer im Kreis herum im Central Park. Am Anfang ist es nur hügelig, aber mit der Zeit wird’s bergig. Morgens um fünf Uhr haben wir schon 23 Grad und entsprechend schmelze ich dahin – da tut eine Abkühlung aus dicken Wassersprengern gut! Blöd nur, dass ich danach mit nassen Schuhen weiterlaufen muss und mir Blasen unter zwei Fußnägeln hole …

Summer Streets of New York City

An den ersten drei Samstagen im August gibt es die sogenannten „Summer Streets of NCY“, d.h. einige Bereiche in New York sind für für Autos gesperrt und nun heißt es spielen, spazieren gehen, laufen und Fahrrad fahren. Das ganze fühlt sich an wie eine große „Sommerparty“ auf den Straßen von New York. Nach meinen Läufen mache ich mich also auf, mir diese „Sommerstraßen“ einmal genauer anzugucken.

Hurrikan Irene

Wie es mit Hurrikan „Irene“ war, warum man bei Sturmdrohung seine Badewanne füllen sollte und wie sehr man sich über eine Batterie-Packung im Supermarkt freuen kann. Auf welche Weise man blitzschnell Dinge aus dem Kühlschrank nehmen kann, wenn’s drauf ankommt, und welche Folgen es manchmal hat, wenn man zur falschen Zeit am falschen Ort und zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist.

 

Irene – sprich: [ˌaɪˈɾiːn]

Ende August 2011 warf der Hurrikan „Irene“ nicht nur meine „Urlaubspläne“ über den Haufen, sondern brachte das Leben an der gesamten US-Ostküste für einige Tage zum Stillstand. Der tropische Sturm war nicht nur hier ein Thema, sondern rund um den Globus in den Nachrichten – insofern wisst ihr bestimmt schon Bescheid.

Die „fast facts“
Die Amerikaner/innen haben definitiv mehr Routine als die Europäer/innen in Sachen „Naturdesaster“: Wildfeuer, Trockenheit und Hitzewellen, Tornados, Überflutungen, Schneestürme und Hurrikans kosten hier jedes Jahr viele Menschenleben und sorgen für enormen ökonomischen Schaden. Irene reiht sich da irgendwo mit ein – ihr Ruf wird nicht so schlimm bleiben, wie es zunächst aussah – Gott sei Dank.

Schon gewusst?
Der Hurrikan wird zurzeit zu den „Top 10 of US Desasters“ gezählt.
Hier ist Irene in Zahlen.

Aber was sagen schon Zahlen – der Spruch unseres Kalenders in der Unglückwoche:

„Nicht alles, was zählt, kann gezählt werden
und nicht alles, was gezählt werden kann, zählt.“
(Albert Einstein).

Daher gibt es für die, die es interessiert, nun meine ganz „private Version“ – ohne viele Zahlen. Für mich war es immerhin das erste angekündigte „Naturereignis“ einer solchen Dimension – Hurrikans kannte ich bisher nur aus den Fernsehnachrichten.
Der Blick von außen auf so eine Naturgewalt unterscheidet sich doch sehr von dem, was man so „durchmacht“, wenn man mitten drin ist – das schon mal vorab.

Daher mein Ratschlag an alle „Schlaumeier“: Den Leuten, die nun davon reden, dass im Vorfeld „Panikmache“ betrieben und die Sache insgesamt zu hoch gepuscht worden sei, empfehle ich, doch beim nächsten Mal „live“ mit dabei zu sein (wir stellen unser Haus und unseren Garten für alle Freiwilligen zur Verfügung). Und die, die meinen, New York City habe nicht genug abgekommen, sollten es sich lieber auf dem Sofa zu Hause bequem machen, „Independence Day“ angucken und sich ihren Mund mit einer großen Portion Popcorn „zustopfen“, als selbigen jetzt aufzumachen und altkluge Sprüche rauszulassen. Wie ihr merkt, geht mir das kluge Gerede einiger Leute im Moment mächtig auf die Nerven – dafür steckte ich doch zu tief drin.

Das einzig wirklich Gute an dieser Geschichte: Ich war alleine hier ohne Anhang!
Als der Hurrikan hier eintraf, war Marc mit den Kids auf einer Hochzeit von Freunden in Deutschland. Wenn die Jungs mit hier gewesen wären, wäre ich vorher wahnsinnig geworden – bei vier Kindern fehlen einem zwei Hände zum Retten (Alptraum!). Solo konnte ich das Ganze dann doch recht sportlich nehmen.

Zum Schnell-Fazit “Irene” für alle mit wenig Zeit geht es hier.

Also, Horrorstorys habe ich nicht zu bieten. Für alle, die es trotzdem interessiert:

 

Donnerstag – zwei Tage vor Irene

Marc wirkt zunehmend bedrückter am Telefon. Auch der Sprecher von Bürgermeister Bloomberg lässt verlauten: „This could be the most serious storm to hit New York City in a century.“ Und die Satellitenfotos von dem kreisenden Giganten, der sich auf uns zubewegt, sind tatsächlich ganz schön beeindruckend.

Mittlerweile gibt es überall Listen, wie man sich auf „Irene“ vorbereiten kann. Und das ist das zweite Positive: Es gibt genug Zeit, sich vorzubereiten – und das ist gut so. Für die Leute vor einigen hundert Jahren ist so etwas aus heiterem Himmel gekommen. In Morristown ist es weiterhin sehr ruhig, das normale Leben geht seinen Gang. Man redet über den Hurrikan, wie man eben über das Wetter redet – die Leute sind gelassen.

Im Internet gibt es jede Menge sehr detaillierter Checklisten. Hier ist nun meine – eine Sache fehlt übrigens, das habe ich aber erst hinterher gemerkt! Fällt euch auf, was es ist?

  1. Know Your Evacuation Zone
    Meine ursprüngliche Idee für die Zuflucht: der Keller unseres Holzhauses (falls umfallende Bäume aufs Haus fliegen und es „halbieren“). Dann bietet mir eine Nachbarsfamilie, die weiß, dass ich allein bin, an, zu ihnen zu kommen. Ich entscheide mich dann aber doch für Marcs Büro: ein stabiles Betongebäude ohne angrenzenden Wald und mit mehreren Etagen (gut bei Überflutung).
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  2. Fill the Bath Tub with Water
    Sounds silly right? But if you aren’t able to flush the toilet, you are going to want to have some water nearby to do the trick. You’ll also probably want some water to brush your teeth with and clean your face. Ich fülle direkt zwei Badewannen – das sollte wohl für mich reichen.
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  3. Stock Up – Hamsterkäufe
    Zu Deutsch: Guck, dass du alles im Haus hast, um für einige Tage autark zu sein – auch ohne Strom, Wasser, Telefon und Gas. Ausreichend Wasser und Lebensmittel (v. a. Konserven und getrocknetes Essen), Medikamente, Batterien, Kerzen, Streichhölzer, Auto volltanken, Bargeld. Alles bei unserer Haushaltsgröße ausreichend vorhanden, bis auf Batterien für die Taschenlampe und das Radio.
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  4. Charge all Electronic Devices
    Computer, Handy, iPad – alles hänge ich ans Netz. Zusätzlich stelle ich Kühlschrank und Tiefkühlschrank ganz hoch (so halten sie ohne Strom etwas länger durch).
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  5. Make a Personal Hurricane Plan
    Das geht einfach: Sobald es ungemütlich wird (Wind und Regen), fahre ich in Marcs Büro und warte, bis es vorbei ist.
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  6. Remove Any Items on Patios, Terraces or Fire Escapes
    Alles, was im Garten steht und was ich bewegen kann, kommt in die Garage. Die Sachen sind nicht nur ein Verlust, wenn sie herumgeschleudert werden, sondern sie können zudem auch Leute verletzen oder Glasscheiben kaputt machen. Die Fenster mit Brettern zuzunageln habe ich mir allerdings gespart …
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  7. Prepare a „Go-Bag”
    Mayor Bloomberg has advised all New York City residents to prepare a „go-bag” containing nonperishables (nicht-verderbliches Essen), bottled water, medications and spare sets of keys. Ich packe also auch mein Köfferchen fürs Büro.
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  8. Make the Best of a Bad Situation
    If you’re going to stick it out and you want to have a little safe fun, consider having your own “hurricane party”. Get some games, a movie, lots of food, and invite some friends over to hunker down at your place while the storm passes. Aber: keine Party für mich. Ich werde es mir dann wohl alleine mit Büchern, iPad und Essen gemütlich machen …

Wem ist aufgefallen, was fehlt
Mir nicht und ebenso Tausenden anderen Leuten auch nicht. Das hängt aber auch mit einer Eigenart von Irene zusammen, die nicht gerade typisch für Hurrikans ist. Wartet ab …

Freitag – ein Tag vor Irene
Es wird langsam greifbarer: Der Wirbelsturm wird bei uns für Samstagabend erwartet – so weit, so gut. New York und North Carolina haben bereits jetzt den Ausnahmezustand verhängt, was eine bessere Zusammenarbeit zwischen den Behörden und bundesstaatlichen Hilfen ermöglicht. US-Kriegsschiffe in Virginia sind aus dem Hafen ausgelaufen, um sich auf hoher See in Sicherheit zu bringen, Hunderte Flüge wurden schon gestrichen, erste Flugzeuge in Sicherheit gebracht. Bei einigen Seen wird bereits jetzt der Spiegel gesenkt und in andere Becken umgeleitet.
Aber man kann sich ja nicht 36 Stunden vorher schon im Keller verstecken – wie wartet man also auf so ein Ereignis? Ich mache das, was alle hier machen: so lange normal weitermachen, wie es irgend geht.

Mein Plan: Ich bin im Moment mitten im Training für den New York Marathon im November und daher voller Vorfreude auf einen Long-Run (20 Meilen) in New York City, angesetzt für Samstagmorgen über die Brooklyn Bridge – das ist ein „Leckerbissen“. Alles ist organisiert: Übernachtungsmöglichkeit bei meiner Mitläuferin Gigi, dann frühmorgens loslaufen, mittags wieder nach New Jersey rüber – das Timing ist perfekt.

Obama will seinen Urlaub auf der Insel „Martha’s Vineyard“ schließlich auch nicht vorzeitig abzubrechen, sondern plant seine Rückkehr nach Washington erst für Samstagvormittag (obwohl Washington doch viel weiter südlich liegt und früher „dran“ ist). Also ausreichend Zeit fürs Laufen und nach Hause fahren.

Freitagmorgen
Schlagzeilen in einigen Zeitungen, z. B. „Mean, Irene – Monster cane zeros in on NYC“, „Irene churns towards East Coast“, „North Jersey braces for Irene’s fall force“ – aber so richtig im Fokus ist es morgens immer noch nicht, das Leben in der Stadt scheint normal, die Leute reden drüber, aber niemand ist in Panik.

Freitagmittag
Nachricht meines Trainingsteams: Das Rennen morgen findet statt, um 12.10 Uhr kommt eine Meldung mit dem Hinweis, doch Bargeld und Handy mitzunehmen, falls die U-Bahn früher geschlossen wird. Also mache ich mich auf nach Brooklyn zu meiner Lauffreundin, alles ist in Ordnung.

 

Freitagnachmittag
Bin mit Bahn und U-Bahn schon mitten in Brooklyn, da kommt ein Anruf von Marc: Der Hurrikan wird immer größer, größer als Katrina vor sechs Jahren, nimmt an Stärke zu, tiefliegende Teile von New York City werden innerhalb der nächsten 24 Stunden evakuiert, Obama ist schon wieder in Washington eingetroffen (dabei hieß es noch, dass er erst morgen käme), und die Subway in New York City ist ab morgen Mittag (Samstag) geschlossen (eine beispiellose Vorbereitung in der Geschichte von NYC). In der U-Bahn kommt dann auch prompt die Durchsage, dass sie morgen um zwölf Uhr dichtmachen. Und ab da reden alle Leute in der Subway darüber, und das Thema ist wirklich präsent.

Es macht „klick“ bei mir im Kopf, und ich bekomme kalte Füße. Der Lauf ist vergessen und ich will nur noch eins: runter von den Inseln Brooklyn und Manhattan (da gibt‘s nur Brücken oder Tunnel, ansonsten ist man gefangen). Mein Lauf wird dann auch offiziell abgesagt (15.30 Uhr). Mir scheint, als ob ab diesem Moment alle nur noch rauswollen. Penn Station (der Bahnhof) ist komplett überfüllt (noch voller als sonst). Eine Frau erzählt aufgeregt ins Handy: „The storm is coming!“, eine andere schleppt ihre Haustiere im Koffer mit und eine Familie mit Kindern hat Koffer und Plastiktüten dabei, die so aussehen, als hätten sie alles nur flink reingestopft und wären überstützt losgerannt. Alles nicht hilfreich, um die Nerven zu behalten – bei mir im Kopf läuft das „Fluchtprogramm“.

 

Dann direkt zwei Highlights hintereinander:

  1. Ich ergattere einen Platz in der Bahn! Da bin ich schon etwas ruhiger …
  2. Eine Viertelstunde nach Abfahrt sind wir endlich über die letzte Brücke rüber nach New Jersey gefahren. Der Gedanke, mit x-Millionen Leuten auf einer Insel gefangen zu sein, wenn so ein Unwetter über einen zieht, und in einer Notunterkunft zu schlafen, hat bei mir wirklich Stress ausgelöst. In New Jersey fühle ich mich dagegen wieder sicher. Das ist wie Weihnachten und Geburtstag zusammen. Das Wetter ist wunderbar (Sonne und blauer Himmel), alles gut.

Während ich „im siebten Himmel“ bin, ist meine Nachbarin auf der Carton Road nicht gut drauf, weil sie Stromausfall fürchtet und die Air-Condition dann ausfällt (darum mache ich mir echt wenig Sorgen!). Ich besorge noch die letzten notwendigen Dinge – alles geht seinen gewohnten Gang. Die Leute kaufen allerdings definitiv andere Sachen als sonst: viel Wasser und Brot, die Batterien-Ständer sind mittlerweile extrem geplündert. Wer einen Generator (eine benzinbetriebene Strommaschine) ergattern will, ist jetzt zu spät dran – alles leergefegt, selbst über Amazon. Die kleine Stressepisode mit den Batterien für mein Radio verläuft dann am Ende ja auch glimpflich (wieder ein unerwartetes Highlight am Ende).

 

Samstag: Irene „makes landfall“

Morgens treffe ich einen Nachbarn auf der Straße: „Are you all stocked up? Ready to be evacuated?“ Yep, alles paletti.
Erste Tat: Kühlschrank hochdrehen und tanken.
Das Wetter: 23 Grad, grauer Himmel, sehr schwül, kaum Wind
Mein Plan: den 30-Kilometer-Lauf alleine laufen, immer zwischen unserem Haus und Morristown hin und her (also sechs Mal). Falls es dann losgeht, bin ich schnell zu Hause.

9 Uhr
Ich laufe los. Auf dem Weg nach Morristown sehe ich viele Leute in ihren Gärten beim Rasenmähen, Absägen maroder Äste (sonst fliegen sie nur herum), alles reinholen. Und – sämtliche US-Flaggen werden eingepackt – alle Gärten sehen richtig leer aus.

9.30 Uhr
Marc pfeift mich übers Handy zurück (nach nur einer halben Stunde laufen, Frust!): Heftige Gewitter sind im Anmarsch. Wieso weiß er das überhaupt? Mist.
Also schnell duschen, Badewannen füllen, alles ans Ladekabel hängen, überall Vorhänge zuziehen (falls was durchs Fenster geschossen kommen sollte).

10 Uhr
Die erste Fuhre mit Sachen von mir ins Büro bringen – wer weiß, wie lange ich dort „wohnen“ werde … Und während ich mich hier vorbereite, feiert Marc mit den Kids die Hochzeit unserer Freunde in Deutschland – verrückt.

11 Uhr
Ich fahre mit dem Auto nach Morristown rein. Hier gibt’s keine Anzeichen von Stress oder Sondersituation: Alle Geschäfte sind offen, die Pediküre und das Brautgeschäft rappelvoll, vor Kings sammeln die Highschool-Mädchen noch Spenden für ihre Volleyballmannschaft, eine Gruppe Fahrradsportler macht Station, die Leute sitzen draußen vor den Restaurants. Ich treffe Oles (6) Ergotherapeutin samt Familie beim Lunch: „Oh, we gonna get a lot of rain. It´s gonna be a mess afterwards.“ Aber alles noch cool – auch der Regen gegen zwölf Uhr unterbricht die saturday lunch-Atmosphäre nicht. Niemand der Leute hier redet übrigens von einem „hurricane“ – sie benutzen alle nur das Wort „storm“.

 

12 Uhr
In New York City stehen ab jetzt alle Subways still – das erste Mal überhaupt. Die Evakuierung der niedrig gelegenen Teile ist bereits seit Stunden in vollem Gange.
Ich bin wieder zuhause, jetzt heißt es warten und warten … Mir ist das zu langweilig, also bereite ich den Deutschunterricht für meine Deutsche Schule vor. Das Postauto bringt noch mal Post zu uns. Es ist schwer zu kapieren, dass hier bald eine Wetterfront durchziehen wird.

Einige Fragen in meinem Kopf:
Wie lange werden wir noch Strom haben? Und wie lange wird er dann ausfallen?
Wird uns das „Auge“ des Sturms (Irene ist mittlerweile „runtergestuft“ zu einem tropischen Sturm und kein Hurrikan mehr) wirklich treffen oder werden wir nur richtig heftigen Regen bekommen mit starkem Wind? Wird einer unserer Bäume im Garten umfallen, womöglich auf das Haus?

Ich mache ein Foto von dem schiefen Baumriesen, an dem Ole (6) und Paul (4) immer Picknick im Garten machen. Mal abwarten, ob der morgen noch steht.
Über den Nachmittag verteilt gibt es immer wieder heftige Regenfälle, die aber alle auch wieder aufhören. Es wird mal grau, mal hell am Himmel, kaum Wind. Nichts Besonderes.

 

18 Uhr
Ich habe keine Lust mehr zu warten, verlasse unser Haus und mache mich auf ins Büro. Mittelstarker Regen und grauer Himmel. Im Radio interviewen sie gerade Leute aus dem Battery Park (einer der Teile New York Citys, der zwangsevakuiert wird). Ein Mann beschreibt ziemlich genau, wie sich wohl viele fühlen: „I don`t really know. I`m okay right now, but it`s a bit scary“.
Der Sender beweist Galgenhumor: Sie spielen „Let it rain on me“ und „Lighters “ (Bad meets Evil feat. Bruno Mars – sprich Eminem mit B. Mars, wie passend) und anschließend erlaubt sich der Moderator einen (politisch ziemlich unkorrekten) Witz, der trotzdem witzig ist:

„How bad is it to be named Irene …
I mean how bad is it to be named Irene in general …
but now …“

Und dann erzählen noch zwei Studenten aus New York, dass sie ein „Irene-Sonderprogramm“ bei sich zu Hause anbieten: non-stop Desaster-Filme.

Im Bürokomplex bin ich wohl die einzige – ist aber egal. Ich mache mir es in Marcs office gemütlich mit Buch und iPad und warte. Fühle mich sicher in den dicken Betonwänden und mit dem großen Parkplatz drum herum. Ich höre nichts von draußen. Tausche noch einige SMS mit Freunden, die ebenfalls warten (man wünscht sich eben alles Gute der Welt) und mache es mir dann auf einem Sofa bequem. Draußen Platzregen.

Sonntag – Getting it together after the storm
Meine Nacht ist zunächst relativ ruhig – ich höre drinnen nichts vom Sturm, bin nur zweimal wach und gehe gucken:

1:35 Uhr
Heftiger Regen mit viel Wind, relativ hell draußen, Wildgänse stehen stoisch im Regen herum, Parkplatzlicht ist an, Strom also noch da.

 

3:27 Uhr
Super heftiger Regen, kein Wind, ziemlich dunkel, Wildgänse stehen immer noch herum, Licht ist immer noch an.

6 Uhr
Ich wache auf, es ist hell draußen. Auf dem Parkplatz sind große Pfützen, viel Grün liegt auf dem Boden (kleine Äste), die Gänse sind weg, das war’s. Aufatmen 🙂 – die Welt ist also nicht untergegangen.
Das Wetter scheint schon viel zahmer – zwar noch Regen, aber kaum Wind. War’s das jetzt? Ich gebe Marc schon Entwarnung: Alles gut hier, halb so wild, keine Überschwemmung, Strom ist auch noch da.

11 Uhr
Die Sonne kommt raus, der Himmel klart auf, der Tag wird wider Erwarten richtig freundlich. Anruf von zwei Freunden: Den einen geht es gut, die anderen haben in der Nacht Stress gehabt – sie mussten Sachen aus dem Keller retten und Wasser schöpfen. Aber alle sind okay.

Die SMS von meiner Lauffreundin Gigi in Brooklyn ist auch positiv: Strom ist weg seit der Nacht, aber ansonsten alles okay. Ich mache noch ein bisschen Sport im Büro und fahre dann nach Hause, um nach dem Rechten zu schauen.

Wie sieht es in Morristown aus?
Die ersten drei Minuten: freie Fahrt nach Hause. Die Straßen sind komplett bedeckt mit grünen Blättern und kleinen Ästen. Sonnenschein, kein Wind, Sonntagswetter.
Dann der erste Stau: Auf der Hauptstraße hängt ein Baum quer über der Straße – entwurzelt und auf die Stromleitung geknallt, die ihn noch hält. Man darf aber einfach drunter durch fahren (ist da noch Strom drauf? Wohl eher nicht).
Die Fahrt geht weiter: Wo gestern noch der Golfplatz war, ist jetzt ein See mit Bäumen mittendrin. Ein paar Bäume sind umgeknickt. Im Radio erzählen sie von überschwemmten Straßen, umgefallenen Bäumen und einigen Toten (durch Ertrinken und Stromschläge). Aber in New York ist es glimpflicher abgelaufen als erwartet.

 

Der Status Quo in unserem Haus
Schon von Weitem sehe ich, dass viel Grünes auf unserer Einfahrt liegt. Je näher ich komme, desto klarer wird: Ja, es hat ihn umgehauen, den Baumriesen, der schon immer bedrohlich schief stand und den ich gestern noch als letztes fotografiert habe, bevor ich ins Büro gefahren bin. Er ist genau zwischen Klettergerüst und Haus gefallen, hat einige andere Bäume mit umgerissen und den Zaun zertrümmert. Er ist komplett entwurzelt – da, wo die Wurzel war, ist jetzt ein anderthalb Meter tiefes Loch – und liegt durch den Garten bis hinunter zur Straße, alles miteinander verknotet in Garten und driveway. Ich bin heilfroh, dass ich gestern Nacht nicht mitanhören bzw. angucken musste, was da passiert ist – das hätte mich wohl auch umgehauen.

 

Check im Haus: Strom weg, Telefon tot, kein Internet, aber Wasser läuft (wird sogar warm) und Gas ist auch da (Herd). Damit geht’s mir schon viel besser als vielen anderen, bei denen es gar nichts mehr tut.

Die Inspektion im Keller mit Taschenlampe zeigt, dass es keine gute Idee gewesen wäre, dort zu schlafen: Es glitzert und wackelt – wir haben Wasser im Keller, nicht viel, einige Zentimeter nur, aber es reicht für eine große Sauerei. Viele Sachen sind aufgeweicht (Sofa, Bett, treadmill, Kartons, Papier, Spielzeug), einige Kisten schwimmen herum. Das Wasser ist klar und stinkt nicht – schon mal gut. Die Sümpfungspumpe ist wohl ausgefallen, als der Strom weg ging – von da an hat das Wasser von unten hochgedrückt. Der dicke Teppich ist hinüber. Ich traue mich zuerst nicht, die Sicherungen unten im Keller rauszumachen, weil ich Angst vor einem Stromschlag habe (das heißt übrigens „to be electrocuted“), man weiß ja nie. Das Wasser im Keller ist etwas verstörend – mehr als der Baum. Hatte einer von euch schon einmal einen überschwemmten Keller? Blödes Gefühl.

 

Was nun?
Ich fahre zu unseren Freunden. In Morristown stehen einige Straßenabschnitte unter Wasser, hin und wieder versperren umgefallene Bäume den Weg. Manches ist schon abgesichert, anderes nicht (da liegt dann einfach ein Baum auf der Fahrbahn). Auch die Auffahrt zur 287, unserer „Hausautobahn“, ist durch einen umgestürzten Baum blockiert. Ein anderer Baum am zentralen Platz in Morristown hat eine Ampel glatt umgehauen und liegt quer über der Fahrbahn. Einige alte Absperrungen vom letzten Regen (Löcher in der Straße) liegen demoliert am Rand oder auf der Straße. Alle Geschäfte sind geschlossen (das erste Mal, dass ich das erlebe) – klar, was sollen die auch ohne Strom machen. Ein Obdachloser, der die Nacht in einem Gemeinderaum einer Kirche verbracht hat, erzählt mir ratlos: „There is no place to get coffee.“ Ja, auch Starbucks ist dicht. Keine einzige Ampel funktioniert – auch die Ampeln an den Nicht-Vorfahrtsstraßen sind einfach nur schwarz. Man sieht aber schon wieder Sportler/innen beim Laufen und Fahrradfahren auf den Straßen (die sind echt hart im Nehmen hier).

 

Und trotz des Durcheinanders und der stellenweisen Zerstörung ist es irgendwie friedlich, fast idyllisch, viel stiller als sonst. Die Feuerwehr ist hier nicht für die Beseitigung der Bäume zuständig, und ich sehe viele Feuerwehrautos in ihren Depots herumstehen – verrückt.

Unsere amerikanischen Freunde erzählen von letzter Nacht: Die beiden Kinder berichten vom lauten Regen und Wind und dass sie Angst hatten. Die dazugehörigen Eltern sind platt, erschöpft und sauer, weil der Keller verschlammt ist, obwohl das eigentlich nicht hätte passieren dürfen. Sie wollen den Architekten verklagen. Den Spielplatz bei ihnen um die Ecke, wo die Jungs nach der Schule oft spielen, hat es komplett zerlegt: Die eine Hälfte ist einen Meter tiefer, alles weggespült, die andere Hälfte ist voll mit angeschwemmten Gut, u. a. auch mit einigen dicken Baumscheiben, von denen niemand weiß, wo sie herkommen.
Unsere Expatfreunde in Morristown sind komplett trocken geblieben, ihr Nachbar hat allerdings umso mehr abbekommen. Er hat einen Generator und macht sich direkt mit der Kettensäge in Eigenregie daran, den Baum, der sich auf dem Stromkabel abstützt, zu zerlegen (waghalsige Aktion) – aber sonst ist alles okay, nur der Strom ist weg. Es bleibt die Frage, wie lange (und diese Frage kostet mich einige Nerven).

Nachmittag
Plötzlich beginnt es heftig zu stürmen, ohne Regen. Es fliegt wieder so einiges durch die Luft, und bei den ganzen abgeknickten Ästen, die noch in den Bäumen hängen und dem aufgeweichten Boden mit den schiefen Bäumen ist das echt ganz schön gefährlich. Hier gehört eigentlich niemand auf die Straße, schon gar keine Kinder.

Ich verbringe den Nachmittag und Abend bei Freunden, wo ich in beiden Familien Zeuge einer Prozedur werde, die ich noch nie im Leben so gesehen habe: Das Öffnen des Kühlschranks erinnert eher an eine Elektroschocktherapie bei einem Menschen mit Herzstillstand:

Wie man blitzschnell Dinge aus dem Kühlschrank nimmt 🙂
Nach kurzer Diskussion, wo sich was im Kühlschrank befindet, nehmen zwei Personen Position ein, eine mit Griff an der Kühlschranktür, die andere direkt daneben, voll konzentriert, die Hände auf Höhe der richtigen Einlegeböden – und dann auf Drei: Eins … zwei … drei … wird die Tür aufgerissen (von A), die Dinge werden, so schnell es geht, herausgenommen (von B) und dann wird die Tür wieder zugeknallt (von A) – Puh, geglückt! Wurst, Käse und Gemüse sind draußen!

Der Tiefkühlschrank ist tabu – man hofft, diese Sachen noch retten zu können, wenn nur der Strom schnell genug wiederkommt.

Morristown bei Nacht
Die Stadt hat abends etwas von einer Geisterstadt – keine Straßenlaternen, keine Ampeln, keine Geschäfte, keine Lichter in den Häusern, schon etwas unheimlich. Alles ist leiser als sonst, die Geräusche sind gedämpfter, nur die Grillen haben sich vom Sturm nicht beeindrucken lassen und geben wieder ihre Konzerte. Es riecht nach Duftkerzen (hier sind viele der größeren Kerzen einfach immer Duftkerzen), und es ist wirklich zappenduster. Man sieht nur die Lichtkegel der Autoscheinwerfer und die Taschenlampen der wenigen Leute, die zu Fuß unterwegs sind. Bei Kings, unserem Morristowner Supermarkt, ist dagegen richtig was los – das Neonlicht blendet einen regelrecht. Der hat tatsächlich am selben Tag noch um 16 Uhr nachmittags wieder geöffnet. Sie haben sich einen gigantisch großen Generator auf einem LKW liefern lassen, der höllelaut vor sich hin röhrt. Im Geschäft ist alles wie immer, außer dass einige Regale leer sind. Die Leute mit ihren Taschenlampen, ein einziger Ort mit Licht, Generatoren – bei mir kommen Erinnerungen an einen Zeltplatz auf.

Die Autofahrt nach Hause ist abenteuerlich – einige Bäume blockieren noch ganze Fahrspuren, aber sie sind z. T. nur mit einem gelben Warnband umzogen. Klasse, denn das sieht man erst, wenn man schon fast in den Baum reingedonnert ist. Da hätten die doch einfach in angemessener Entfernung ein paar Warnkegel oder Hinweisleuchten hinstellen können! Haben die Verantwortlichen hier geschlafen oder sind sie schlichtweg komplett überlastet? Wer weiß, wie es in anderen Städten aussieht.

Die Pick-ups und SUVs trumpfen alle mit ihren Extra-Scheinwerfern oben auf den Fahrerkabinen auf – die blenden und sehen etwas bedrohlich aus, aber ich hätte jetzt gerne auch einen.

Wer seinen Weg als Autofahrer/in jetzt nicht kennt, kann leicht mal eine Kreuzung übersehen – definitiv nur okay für Ortskundige.

Unsere Straße ist ebenfalls rabenschwarz und super still. Auf dem Weg vom Auto zum Haus tappe ich vollkommen im Dunkeln (an die Taschenlampe hatte ich vorhin im Hellen nicht gedacht). In zwei Häusern sieht man in einem Raum von außen Licht – das sind die mit Generatoren. Ist schon etwas unheimlich, in einer Straße zu wohnen, in der es so zappenduster ist. Aber die Lage ist ja ruhig, Dunkelheit macht mir generell keine Angst und so schlafe ich trotzdem gut.

Marc gibt mir übrigens immer wieder Updates, was das Ausmaß der Zerstörung angeht. In aller Welt scheint man besser informiert zu sein als wir hier. Und er kontaktiert auch unseren Vermieter: Was ist wegen des Baums und des Kellers zu tun?

Jetzt haben „Techies“ klare Vorteile (Surfen mit Handy). Für uns bleiben nur das Radio und die Buschtrommeln – aber die funktionieren erstaunlich gut: Wer hat den Keller unter Wasser? Wer hat einen Baum quer durchs Haus? Der Nachbarort hat Strom (wie gemein), aber mehrere Millionen Menschen an der Ostküste sind ebenfalls ohne Strom im Moment …

Das normale Leben geht jedoch trotz des Ausnahmezustands weiter: Die Frage für viele am Abend: Wie komme ich morgen trotz überschwemmter, blockierter oder weggespülter Straßen und ohne Bahn zur Arbeit?

Außerdem geht es gerade heute für viele „freshmen“, also Erstsemester, ins College („moving weekend to college“) – da sind Improvisieren und ein bisschen Pioniergeist gefragt.

Montag
Am Morgen der Schock: Mein Nachbarin Nancy erzählt mir, dass ihr gestern Vormittag um elf Uhr unser Baum unmittelbar vor die Füße gekippt ist, als sie nach mir schauen wollte – und das, als der Sturm schon vorbei war, bei schönstem Sonnenschein!
Es hat genau drei Sekunden gedauert, bis er unten war – sie war gottseidank auf der anderen Straßenseite. Das Krachen und der Aufprall waren so laut, dass die halbe Carton Road aus ihren Häusern gelaufen kam, einer sogar in Unterhosen (laut Nancy). Ich bekomme nachträglich noch eine Gänsehaut …

Unser direkter Nachbar berichtet mir ebenfalls, dass er gerade in seinem Garten war – auch er wurde knapp verfehlt. Er erzählt mir dann sofort noch von einem Arbeitskollegen, der vor einiger Zeit in seinem Auto von einem Baum erschlagen worden ist (Mann, die Leute sind hier echt hart!). Ja, „timing“ ist alles!!!

Wir betrachten unsere ineinander verkeilten Bäume – es ist nicht auszumachen, ob und was von seinem Vorgarten von unserem Baum beschädigt ist. Wir müssen auf die Baumschneider warten.

Mein Vertrauen in alle Bäume hier ist aber endgültig erschüttert – und wir haben noch mehr von diesen Riesen „mit Schlagseite“ in unserem Garten.

Bin nur froh, dass die Kids nicht da sind – da bin ich „mimosiger“ als amerikanische Eltern, die einfach weiter mit ihren Kids in ihren „Hexenhäuschen“ wohnen.

Der Status Quo

  • Die Lage im Haus: Wie gestern. Aber das Wasser im Keller ist abgelaufen, der Teppich fühlt sich an wie eine Mischung aus Moor- und Moosschicht (es federt, gluckert und zischelt, wenn man drauf geht) und fängt an, seltsam zu riechen.
  • Die Lage in Morristown: Nicht viel anders als gestern. Alles wirkt sehr ruhig, keine großen Aktionen, immer noch viele Straßen blockiert, überall brummen Generatoren, die vor allem Wasser aus den Kellern pumpen, Ampeln aus, alles geschlossen.
  • An den Straßenrändern türmen sich mittlerweile zusammengefegte Äste, Blätter und kleinere Baumstämme, fast überall sieht man Sperrmüllhaufen mit aufgeweichten Möbeln und sonstigen Müll, und auch die ersten Teppichhaufen tauchen auf – wie haben die das bloß geschafft, so schnell einen Handwerker zu bekommen, die Glücklichen? Viele Leute sind mit Gummistiefeln unterwegs. Als ich meinen Long Run nachhole, muss ich über umgefallene Bäume klettern – kein New York-Zug fährt an mir vorbei, die U-Bahn fährt aber seit heute morgen schon wieder.

 

  • Stromquellen: Wie lädt man seine elektronischen Geräte, deren Akkus mittlerweile alle leer sind? Auch hier ist Kreativität gefragt: Unser amerikanischer Freund hat eine mobile Autobatterie in der Küche stehen, viele andere lassen ihre Autos laufen und laden dort ihre Handys und Laptops auf. Ich schlage mich in den Nachbarort durch, denn die haben Strom und Internet. Allerdings brauche statt 20 Minuten eine geschlagene Stunde (Zickzackfahrt wegen gesperrter Straßen). In meinem Café ist die Hölle los, alle hängen mit ihren Laptops und Handys in den Steckdosen. Aber es geht friedlich zu, man kommt ins Gespräch – alle haben etwas zu erzählen. Meine Tischnachbarin ist am Samstag umgezogen und hat neben dem allgemeinen Chaos jetzt zwei Keller unter Wasser und Kisten im ganzen Haus. Wieso sollte ich also jammern?

 

  • Mein Highlight: Unser landscaping-Mann hat mit einer Motorsäge den driveway vom Grün befreit – wir können also wieder dort parken. Der Rest bleibt liegen, wo er ist.

 

  • Neid: Einige Nachbarsfamilien haben abends wieder hell erleuchtete Häuser – gemein. Fragt mich nicht, wieso die Strom haben und ich nicht, aber anscheinend hängen wir an verschiedenen Versorgerstationen …

Meine Laune wird zunehmend schlechter – ich weiß nichts mit mir anzufangen. Die Anspannung der letzten Tage fällt deutlich ab, aber man bleibt auf den Folgen sitzen. Ich komme hier nicht weg (weder mit Auto noch mit der Bahn), keine Geschäfte sind offen, meine schönen Urlaubspläne sind hin und niemand kann einem sagen, wie lange das Ganze dauern wird. Brrrr – nicht mein Ding.

 

Die Tage danach
Ab Dienstag kehrt in großen Teilen von Morristown wieder so etwas wie Normalität ein: Der Strom kommt wieder (aber längst nicht überall – einige müssen über zwei Wochen darauf warten), viele Geschäfte sind wieder offen (wobei die Kühlregale zunächst leer sind), ab Mittwoch fahren die Züge wieder, man hört inzwischen überall die Laubpuster dröhnen. Die Teppichhaufen an den Straßenrändern wachsen von Tag zu Tag. Viele Bäume liegen noch an der Seite, sind aber mittlerweile in Stücke gesägt, und die Äste sind entfernt. Die Stadt hört sich wieder „normal“ an, die Generatoren werden nicht mehr gebraucht und von vielen dann auch direkt umgetauscht. Ja, das geht hier, selbst, wenn sie schon benutzt sind! Man muss nur eine gewisse Gebühr zahlen…

Der große Moment
Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie verzückt ich bin, als ich auf einmal das Summen der Kühlschränke in unserem Haus vernehme – wie Weihnachten, Geburtstag und Silvester (mit Feuerwerk) an einem Tag! Ich stelle zur Feier des Tages direkt Spül- und Waschmaschine gleichzeitig an und lausche selig dem Rauschen der Geräte. Zugegeben, es könnte einen nachdenklich stimmen, wie abhängig wir vom Strom sind, aber in diesem Moment fühle ich mich wieder mit dem Rest der Welt verbunden: Wir sind zurück – zumindest teilweise (Telefon und Internet sind weiterhin tot).

Donnerstag
Unser Keller fängt langsam an zu stinken wie eine Mischung aus Katzenklo und nasser Hund. Am Donnerstag wird es unerträglich – die Temperaturen draußen liegen bei knapp 40 Grad, das ganze Haus ist verpestet, kaum auszuhalten. Marc informiert mich, dass der Vermieter verzweifelt versucht, Leute zu finden, die den Teppich rausholen.

Freitag
Um 20 Uhr dann die Erlösung: Ein Team von 7 (in Worten: sieben!) Leuten reißt den Teppich raus, schneidet die Trockenwände ab, stellt gigantische Ventilatoren unten auf (die seitdem ununterbrochen Tag und Nacht pusten und die Feuchtigkeit aus den Wänden bringen sollen) und reißt die Fenster auf. Nach eineinhalb Stunden ist alles erledigt – ich könnte ihnen die Füße küssen, gebe 50 Dollar Trinkgeld und bin selig. Das war das letzte vorläufige Highlight im Zusammenhang mit Irene. Aber der Wirbelsturm ist natürlich immer noch Gesprächsthema No. 1.

 

Jede Menge Geschichten
Eine Frau soll sich nach eineinhalb Wochen ohne Strom in ihrer Verzweiflung an einen PSE Truck (Stromgesellschaft) gekettet haben, damit sie endlich zu ihr in die Straße kommen. Aber sie kommen einfach nicht so schnell hinterher, obwohl man inzwischen die PSE Trucks aus anderen Staaten alle hier rauf gezogen hat (bis von North Carolina sind sie zu uns gekommen).

Eine andere Mutter erzählt, dass sie von der „Restauration Company“ übers Ohr gehauen worden ist: Der Kostenvoranschlag für den Keller lag so um die 2.500 Dollar, jetzt sollen sie über 15.000 Dollar bezahlen!

Die Mutter eines Freundes von Theo (9) ist ebenfalls fix und fertig mit den Nerven: Der Keller unter Wasser, alle ihre alten Highschool- und Collegefotos durchnässt (die trocknen gerade einzeln auf dem Rasen vor dem Haus), die pubertären Kinder drehen durch (kein facebook, keine Computerspiele), kein warmes Wasser (also kalte Dusche morgens), kein Kaffee (weil kein Strom), alle Lebensmittel im Tiefkühlschrank und Kühlschrank verdorben und dann, „on top of that, Back-to-School Shopping with a 12 year-old daughter!“ Ich beneide sie nicht.

Aber es gibt eben auch die Geschichten, an denen man sieht, wie die Leute zusammenrücken und sich in der Not gegenseitig helfen: Einer meiner Schüler erzählt, dass die Leute in seiner Stadt einen ganzen Tag lang gemeinsam Dinge aus dem überfluteten Theater heraustrugen, um so viel zu retten, wie es ging.

Oder die Geschichte von dem, der bei der Nachbarsfamilie im Swimmingpool Wasser holen durfte, damit er zumindest eine rudimentäre Toilettenspülung hatte.

Wie zwei Nachbarsfamilien sich einen Generator teilten, um ihre „sump-pump“ im Keller am Leben zu halten (und damit das von unten drückende Wasser weiter rauspumpen zu können). Nicht wie bei uns im Haus, wo die Pumpe ausfiel und alles von unten geflutet wurde).
Oder Denville, eine kleine Stadt hier ganz in der Nähe: Die Hauptstraße war überflutet, viele der Geschäfte standen vor dem Aus. Da sind alle näher zusammengerückt, haben mit aufgeräumt, als das Wasser weg war, und haben direkt diverse Sammelaktionen gestartet, um den Geschäftsleuten wieder auf die Beine zu helfen.

Irene aus Kinderaugen
Hier nun ein Brief meiner Schülerin Malin (12 Jahre) an eine Freundin in Deutschland, in dem sie über ihre „Irene-Erlebnisse“ berichtet (das hatte ich meinen Schulkindern an der deutschen Schule als Hausaufgabe aufgegeben – nur die Rechtschreibung ist korrigiert).

Morris Plains, 30. September 2011

Hallo Annika,

wie geht es dir? Mir geht es sehr gut. In diesem Brief will ich dir alles über den Hurrikan Irene erzählen, der vor einem Monat uns erwischt hat. Ich habe dir ja gesagt, dass ich dir alles ganz gründlich erzählen werde.

Erst mal werde ich dir ein paar Infos über den Hurrikan schreiben. Der Hurrikan, der am 20. August entstanden ist und sich am 29. August aufgelöst hat, hieß Irene. Irene war ein Kategorie-3-Hurrikan. Das ist schon ganz schön stark. Er gibt nämlich fünf Kategorien. Eins ist die schwächste und fünf die stärkste. Später wurde Irene runtergestuft zu einem Kategorie-1-Hurrikan. Dieser Hurrikan ist auch der erste seit 1903, der diese Gegend so stark trifft.

Wir haben uns natürlich ganz gut auf den Hurrikan vorbereitet. Als erstes sind wir einkaufen gegangen und haben wichtige Lebensmittel und andere Sachen gekauft. Als wir in einem Supermarkt waren, da haben wir festgestellt, dass viele Sachen schon ausverkauft waren. Zum Beispiel gab es kein Wasser, keine Milch, und Brot gab es auch nicht mehr viel. Glücklicherweise haben wir die letzte Packung Streichhölzer kriegen können. Die Generatoren waren auch alle ausverkauft und an den Tankstellen waren lange Schlangen. Zuhause haben wir alle Taschenlampen und Kerzen zusammengesucht für den Fall, dass wir Stromausfall haben. Draußen haben wir alle Sachen, die wegfliegen können, reingestellt.

Irene hat uns in der Nacht vom 26. auf den 27. August getroffen. Das war von Samstag auf Sonntag. Der Wind hat stark geweht und es war sehr laut. Ich bin zum Glück nicht in der Nacht aufgewacht, nämlich dann hätte ich bestimmt nicht mehr einschlafen können. Als ich dann morgens aufgewacht bin, habe ich festgestellt, dass wir Stromausfall hatten.

Die betroffenen Gebiete vom Hurrikan Irene waren die Kleinen Antillen, Puerto Rico, Bahamas, Dominikanische Republik und die Ostküste der Vereinigten Staaten.

Der Hurrikan hat ganz schön viele Schäden angerichtet. Es gab ungefähr 54 Tote. Die Schäden kosten ungefähr 10,1 Milliarden US-$. Überflutungen und Stromausfälle gab es sehr viele und in allen getroffenen Gebieten.

Leider hatten wir auch Stromausfall. Den Strom haben wir um vier Uhr am Sonntagmorgen verloren. Erst am Freitag ungefähr um drei Uhr dreißig hatten wir dann wieder Strom. Unsere Wasserpumpe läuft normalerweise über Strom. Zum Glück läuft sie über Wasser, wenn kein Strom da ist. Das gab uns eine höhere Wasserrechnung, aber keinen überfluteten Keller. Alle unsere Sachen im Eisfach schmolzen und wurden schlecht. Am Mittwoch, glaube ich, hat der Papa dann Eiswürfel gekauft, so dass wir paar Sachen kalt halten konnten. Die Eiswürfel zu finden war auch nicht einfach, weil die auch fast ausverkauft waren. Und was nicht ganz so schlimm war, war, dass wir kein Licht hatten.

Ich hoffe, jetzt weißt du mehr über den Hurrikan, der uns getroffen hat. Ich will sowas lieber nicht noch einmal mitkriegen. Wer weiß, wie stark der Hurrikan nächstes Mal sein wird. Du hattest echt Glück, dass du sicher zu Hause warst.

Deine Malin

 

Irene, „ A slow Killer“ (Wall Street Journal, 30. August 2011)
Na, wem ist jetzt aufgefallen, was bei meiner Vorbereitungsliste gefehlt hat?
Niemand hatte etwas davon gesagt, dass man die Sachen aus dem Keller hochtragen sollte!
Für den Teppich hätte es keine Rettung gegeben, aber Sofa, Bett, treadmill hätten es überlebt. Vielen anderen Leuten ist es wie mir ergangen.

Das Tückische an diesem Wirbelsturm war, dass ein Großteil der Zerstörung diesmal nicht auf die Winde, sondern auf die enormen Wassermengen zurückzuführen ist, die er mit sich brachte. Zahlreiche Straßen und Brücken wurden unterspült oder weggerissen, aus kleinen Flüsschen wurden über Nacht 100 Meter breite reißende Flüsse, von denen einige Menschen in ihren Autos überrascht wurden und dort ertranken. Und die Polizei hatte viele dieser Straßen eben auch nicht vorsorglich abgesperrt, weil man nicht damit gerechnet hatte.

Zu früh gefreut
Und dann am Sonntag, als alles vorbei zu sein schien, sorgten der Abfluss des Wassers von Bergen und Hügeln noch bis Dienstag dafür, dass die Wasserpegel der Flüsse immer weiter anstiegen, Rückhaltebecken nicht durchhielten und so ganze Gemeinden, die scheinbar das Schlimmste überstanden hatten und schon feiern wollten, an den nachfolgenden Tagen vom Hochwasser verschluckt wurden. Viele Leute mussten mit Hubschraubern von ihren Dächern aus der Luft gerettet werden, einige Gemeinden waren von der Außenwelt abgeschnitten, weil sie auf einmal auf einer Insel lebten.

Das ist uns in Morristown zum Glück erspart geblieben (wir haben hier auch gottseidank keinen Fluss), aber in Parsipanny, einer Stadt in der Nähe, wurden die Leute am Sonntagnachmittag von einer Notruf-Telefonkette und dem Bürgermeister alarmiert, und schon wenige Stunden später standen 500 Häuser bis zum zweiten Stockwerk unter Wasser – die Mauer vom Haltebecken des Rockaway Rivers war geborsten.

Durch die Vorwarnungen und die Evakuierungen sind die Opferzahlen noch verhältnismäßig klein geblieben, aber ich kann nur sagen, dass mir das alles sehr nahegeht. Ich bin einfach nur froh, dass unsere Kinder nicht hier waren und ich nicht zu denen gehörte, die ihre Kinder hoch über dem Kopf tragend, aus einem überschwemmten Gebiet retten mussten, wie einige hier. Alptraum.

Und während Irene schon langsam kein großes Thema mehr für den Rest der Welt ist (oder hört ihr noch etwas davon im Radio oder Fernsehen?), werden die Leute hier lange an den Folgen zu knabbern haben, denn viele Schäden sind noch lange nicht behoben (wie der Baum im Garten bei uns). Auch finanziell sind zahlreiche Leute tief getroffen, weil viele Schäden nicht über die Versicherungen gedeckt sind. Die meisten regulären Versicherungspolicen für ein Haus schließen „flooding“ aus.

Ich habe jedenfalls in der letzten Woche mehr über Naturkatastrophen gelernt als bisher vor dem Fernseher – und dann noch eine ganze Menge über die Amerikaner/innen und über mich.

Schnell-Fazit für alle mit wenig Zeit

Das Wichtigste zu allererst: Timing ist (fast) alles:

Wer zur falschen Zeit am falschen Ort ist, hat verloren
Wie z. B. der Junge, der neben seiner Mutter im Bett von einem Baum erschlagen worden ist. Die Mutter blieb unverletzt – einen halben Meter neben ihm!

Wer dagegen zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist, hat gewonnen
Wie z. B. meine Nachbarin, der unser Baum direkt vor die Füße geknallt ist und die mit einem Riesenschrecken davongekommen ist.

Also, es ist sicherlich sinnvoll, in Deckung zu gehen und auch nicht sofort wieder „rauszukommen“, wenn alles vorbei scheint. Wie auch Obama am Tag nach dem Sturm sagte: „Es ist noch nicht vorbei – Vorsicht!“ Und er hat Recht behalten: schlechte Infrastruktur, unter Strom stehendes Wasser, ungesicherte „Baumsperren“ und nachts absolute Dunkelheit – das alles zusammen bildet einen gefährlichen „Abenteuerspielplatz“.

So ein Ereignis polarisiert das Leben viel mehr als der Alltag und die Extreme liegen teilweise direkt nebeneinander: Die eine Nachbarsfamilie „säuft“ ab, während die andere komplett trocken bleibt. Unsere Nachbarstadt hat Strom, Morristown nicht, während die dritte daneben komplett überflutet wird. Der Alltag (mit Hightech, Coffeeshops und funktionierender Infrastruktur) vor dem Sturm wird „ausgeknipst“ und von einem Ausnahmezustand (mit Taschenlampen und Kerzen, geschlossenen Geschäften und gestörter Infrastruktur) abgelöst (zugegebenermaßen mit gelassener Routine von den meisten Leuten hier gelebt).

Dazu kommen Asymmetrien zwischen Außen- und Innenperspektiven und Betrachtungsweisen – insgesamt und individuell: Marc wird fast panisch (6.000 Kilometer weit weg), während die Leute hier noch „chillen“ (und ich hänge dazwischen). Und während die Welt mit ihrer Technik aus sicherer Entfernung alles live mit angucken kann, sind wir wie Spielbälle der Naturgewalt. Unmittelbar nach dem Sturm wissen alle, die nicht hier sind, viel mehr als wir, die wir mitten drin sitzen. Und als das Thema für den Rest der Welt vom Tisch ist, sind wir hier immer noch dabei, unsere Wunden zu lecken. Die Gesamtbetrachtung der Schäden hinterher („War ja insgesamt alles gar nicht so schlimm …“) schmeckt fahl in Anbetracht der persönlichen Schicksale, die man sieht. Das kommt selbst mir wie eine Ohrfeige nach einer Verletzung vor.

Und die Amerikaner/innen?
Die sind aus anderem Holz geschnitzt als wir. Während ihre Häuser wenig Standvermögen haben, sind die Leute im wahrsten Sinne des Wortes „sturmerprobt“. Die meisten waren sowohl vorher als auch hinterher recht entspannt – das Leben geht schnell weiter. Auch die älteren Leute nehmen es cool („We lost power. We couldn’t get a hotel room. But, it was just an inconvenience“), die Tochter wird über Umwege zum neuen College gebracht und ein Baumstamm quer im Haus ist noch lange kein Grund, nicht zur Pediküre zu gehen. Es war nicht der erste Sturm und wird nicht der letzte bleiben …

Was mich sehr beeindruckt hat, ist die Solidarität der Menschen untereinander, die selbstverständliche Bereitschaft, sich gegenseitig zu helfen – so eine Notlage mobilisiert enorme Kräfte. Man rückt näher zusammen, verbringt mehr Zeit miteinander, alles wird „entschleunigt“. Es gibt genügend Gesprächsstoff mit Fremden. Im selben Boot zu sitzen kann Leute zusammenschweißen, die im Alltag nichts gemeinsam haben. Das kenne ich so nicht aus Deutschland (aber zugegeben, weder Hurrikans noch Überschwemmungen noch tagelanger Stromausfall sind in Deutschland an der Tagesordnung).

Und ich?
Nun zu mir: Ich durfte eindrucksvoll miterleben, wie der „Notfall-Schalter“ in meinem Kopf angesprungen ist und das Kommando innerhalb einer Sekunde übernommen hat. Das ist wie ein Vorzeichenwechsel: Während im „Komfortmodus“ solche Sachen wie Langläufe in New York City von großer Bedeutung sind, wird das alles im „Notfallmodus“ komplett gelöscht und das Bedürfnis nach Sicherheit hat höchsten Vorrang (inklusive Panik und Adrenalin). Das war schon beeindruckend. Dafür gab es auch eine Menge unerwartete Hochgefühle (zum Beispiel tiefe Glücksgefühle beim Anblick einer Packung mit Batterien 🙂 ) – insgesamt war alles wie eine Achterbahnfahrt im Dunkeln.

Apropos dunkel: Man wundert sich, wie dunkel es im Dunkeln sein kann. Da machen dann Wörter wie „zappenduster“ oder „pitchblack“ auf einmal Sinn. Gewöhnliche Taschenlampen mögen übrigens was für Nachtwanderungen und fürs Zelten sein, aber sie taugen nicht wirklich fürs Leben ohne Strom. Ich wünsche mir jetzt jedenfalls eine Stirntaschenlampe zum Geburtstag und einen Generator zu Weihnachten 🙂 .

 

Juhu – die Kids sind wieder da!

Als Morristown nach dem Sturm wieder fast normal funktioniert, kommt der Rest der Truppe aus Deutschland hier an. Ein großes „Hallo“ am Airport, die Kids lassen mich gar nicht mehr los und wollen wissen, ob der Baum noch im Garten liegt. Beim Koffertragen kann ich nicht helfen, weil sich auf dem Weg zum Parkplatz zwei warme, weiche Kinderhände darin geparkt haben – das fühlt sich wieder richtig gut an (armer Packesel Marc).

Aufregung, als wir im Haus ankommen: Die Kids begutachten den umgefallenen Baumriesen im Garten, der nur knapp ihr Kinderhaus verfehlt hat. Sie verschwinden in ihre Zimmer, man hört nur „geil“, ein Rumpeln und ein Krösen überall – es ist wieder Leben im Haus. Paul (4) stellt sein Kinderstühlchen weg: „Das brauch ich jetzt nicht mehr – ich bin jetzt groß.“

Ole (6) kommt immer wieder zu mir und will wissen: „Mama, bist du schon verheiratet?“ Theo (9) kommentiert: „Der will mit dir heiraten.“

Das merke ich mir für die Zukunft: Einfach mal weg von zuhause, mal richtig entspannen, und anschließend lammfromme Kids, die einem aus der Hand fressen.

Jetzt noch ein letztes Mal acht Koffer auspacken und im Keller verstauen … für lange Zeit brauchen wir die nun nicht mehr, denn dieses Jahr bleiben wir Weihnachten hier. Und in ein paar Tagen geht die Schule wieder los …

Theos Schule steht allerdings noch teilweise unter Wasser, wie man hört. Der Lehrerin sollen auf der Treppe schon die Frösche entgegengekommen sein – das Schulterrarium im Keller war in der Flut umgekippt und das Wasser hatte die Amphibien befreit 🙂 .

Wie gut, dass Theo seine Bücher nicht zum Ende des Schuljahres zurückgegeben hatte – die pünktlich zurückgegebenen Bücher sind nämlich jetzt Pappmaschee. Mal abwarten, ob die Schule pünktlich wieder aufmacht.

 

Passt gut auf euch auf
 PS: Hier geht’s weiter zum nächsten Monatsbrief. Viel Spaß beim Lesen!