Ich war wirklich total überrascht, als ich beim Ausräumen der Schulrucksäcke von Theo und Tim die sogenannten „progress reports bzw. report cards“ (Zeugnisse) fand. Klar, eigentlich sind Mitte des Schuljahres Zeugnisse fällig (eben wie in Deutschland), aber bei dem ganzen Tohuwabohu waren wir tatsächlich völlig ahnungslos (letztes Jahr hatten die beiden nämlich keine bekommen – wir waren ja erst im Januar quer eingestiegen).
Zum Zeugnis: Im Unterschied zu Deutschland ist das Zeugnis eher eine mehrseitige Lektüre. Hier gibt es bis zum 5. Schuljahr keine Noten, sondern nur drei Kommentare bzw. Buchstaben: E = Experiencing difficulty, P = Progressing and developing, I= Independently used skill. In unserem school district haben sie die Noten abgeschafft, nachdem eine Untersuchung gezeigt hatte, dass vor allem die schlechten Schüler/innen nicht von schlechten Noten profitieren, sondern mehr mit richtungsweisenden Kommentaren anfangen können. Und bei guten Schüler/innen zeigte sich, dass es keinen Unterschied machte, ob sie Noten oder Kommentare bekamen.
Die Lehrerinnen von Tim und Theo äußern sich sehr zufrieden, jedenfalls sind eine Menge Fortschritte dort aufgelistet. Also alles in Butter 🙂 .
Das Zeugnis von Theo umfasst vier Seiten, dicht beschrieben. Es gibt elf „Fächer“ bzw. Beurteilungsbereiche („reading“, „writing“, „maths“, „listening/speaking“, „social/emotional development“, „work study habits“, „science“, „physical education“ (Sport), „art“ (Kunst), „vocal music“ und „media literacy“, die alle noch mal in etliche Teilfertigkeiten aufgedröselt sind. Insgesamt sind es 150! solcher Teilleistungen, die alle individuell von den Lehrkräften zu beurteilen sind – eben mit „E“ (noch schwierig), „P“ (macht Fortschritte) und „I“ (selbständig benutzte Fertigkeit). Am Ende gibt es auf dem letzten Blatt noch eine schriftliche Zusammenfassung über Fortschritte, Leistungen, Verhalten im Unterricht und zukünftige Verbesserungsmöglichkeiten.
Ganz ehrlich – das dauert über eine halbe Stunde, bis man das gelesen und verstanden hat, und am Ende muss man fast wieder von vorne anfangen. Ich will nicht wissen, wie viel Zeit die Lehrer/innen für jedes einzelne Zeugnis brauchen, um diese 150 Teilfähigkeiten einzeln zu beurteilen und festzulegen. Hammer! Ob sich diese Mühe lohnt und die Eltern sich diese Kommentare wirklich durchlesen und draus lernen? Ich habe da berechtigte Zweifel, wenn ich mein eigenes Verhalten anschaue. Aber ich muss mich da wohl wirklich selbst erziehen im Sinne von „ein Zeugnis ist kein Ergebnis, sondern ein Wegweiser“.
Sowohl Theo als auch Tim hatten übrigens wirklich anständige Zeugnisse, die die Fortschritte der beiden hervorheben: Bei Tim gab es viele „P“s (er macht sich auch richtig gut im Lesen – da hat die ganze „sight-words-Paukerei sich doch gelohnt).
In Literacy und in Mathe sogar schon „I“s; bei Theo fällt es sogar noch etwas besser aus.
Positiv finde ich, dass die Kids selbst eine Art Brief verfassen, in dem sie das Schulhalbjahr reflektieren: Was hat gut geklappt? Was hat Spaß gemacht? Woran muss ich noch arbeiten? Dieser handschriftliche Brief wird mit ans Zeugnis geheftet.
Ins Grübeln komme ich jedoch, wenn ich den vorletzten Satz im Kommentar von Mrs. Ciorcalo über Theo lese, dass er ein „positive, contributing citizen of our school“ ist. Theo redet auch immer schon davon, dass er ein „good citizen“ sein will. Diese Formel „a good pupil = a good citizen“ habe ich auch schon als Poster in einer Klasse gesehen – merkwürdig …